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  • 200 Jahre Anton Bruckner

»Für gequälte Herzen und feuergeläuterte Seelen«

Was hören zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner? Eine kleine Sichtung der Sinfonien und Aufnahmen

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 8 Min.
Bruckner umschreiben: So haben es die White Stripes gemacht (Notenschrift mit freundlicher Genehmigung von Jan Reichow).
Bruckner umschreiben: So haben es die White Stripes gemacht (Notenschrift mit freundlicher Genehmigung von Jan Reichow).

Welche Bruckner-Sinfonien sollte man zum 200. Geburtstag des Komponisten unbedingt hören oder gehört haben? »Alle Neune«, wie bei Beethoven oder Mahler? Nur, wenn man die eigene Zählung des Komponisten akzeptiert, der sowohl seinen ersten sinfonischen Versuch, die sogenannte Studiensinfonie, als auch die sogenannte »Nullte« (die zwischen der Ersten und Zweiten entstanden ist) annulliert hat. Also gibt es doch eher elf Sinfonien. Und dann gibt es von einigen auch noch mehrere unterschiedliche Fassungen, womit Bruckner oft auf die Bewertung durch andere Musiker, Kritiker oder das Publikum reagierte. Denn er war ein ängstlicher und gehemmter Künstler und litt zeitlebens unter Minderwertigkeitsgefühlen.

Heute kommt man zunehmend zu dem Schluss, dass die Erstfassungen, also die ursprünglichen Kompositionen, gerade wegen ihrer größeren Radikalität, Wildheit oder stupenden Unmittelbarkeit zu bevorzugen sind, nicht zuletzt, weil Bruckner ursprünglich auch wenig Rücksicht auf die Aufführungsbedingungen seiner Zeit nahm. Gerade bei der Vierten ist die Urfassung des Werks essenziell, wenn man den Sinfoniker Bruckner und seine Modernität begreifen will.

Nach seinem umjubelten Auftritt als Organist in England entstanden die zweite bis fünfte Sinfonie in einer Art Schaffensrausch zwischen 1871 und 1876. Seine Zweite und Dritte hatte Bruckner im Gepäck, als er in Bayreuth seinen Helden Richard Wagner traf, dem er eine dieser beiden Sinfonien widmen wollte. Wagner entschied sich für die Dritte, die Bruckner ihm denn auch unterwürfigst widmete: »Seiner Hochwohlgeboren Herrn Herrn (sic!) Richard Wagner, dem unerreichbaren, weltberühmten und erhabenen Meister der Dicht- und Tonkunst in tiefster Ehrfurcht gewidmet«. Puh.

In deren Urfassung finden sich zahlreiche Verweise auf Wagners Werke. Im Finale erleben wir, wie Bruckner eine feierliche Choralmelodie mit einer stilisierten Polka kombiniert. Die Uraufführung (der mittleren Fassung) im Wiener Musikverein wurde zum schlimmsten Fiasko in Bruckners Karriere. Immerhin erlebte Gustav Mahler dieses Konzert mit und bot sich an, einen Klavierauszug der Sinfonie zu erarbeiten. Kein Zufall, waren Mahler doch gerade die Samples aus Kunst- und Volksmusik wie im letzten Satz dieser Sinfonie sehr nahe.

Die Vierte Sinfonie, die »Romantische«, ist wohl das populärste Werk Bruckners, vor allem auch aufgrund des Jagd-Motivs im Scherzo. Dieses gefällige Scherzo war in der Urfassung jedoch gar nicht Teil des Werks – das ursprüngliche Scherzo war wesentlich wilder und verrückter. Die Letztfassung stellt für Wilhelm Sinkovicz, der für das Jubiläumsmagazin »50 Jahre Brucknerhaus Linz, 200 Jahre Anton Bruckner« alle Sinfonien neu beleuchtet hat, sogar »eine grobe Verfälschung dessen dar, was ursprünglich geplant war. Die wilden, ungezügelten Gesten der ersten Version verraten uns den ›modernen‹ Komponisten.« Der allerdings alle Exaltiertheiten seiner Komposition bereitwillig dem Publikumsgeschmack seiner Zeit geopfert und eine brave, heute würde man sagen: mainstreamige Version der Vierten veröffentlicht hat. Also: die Urfassung der Vierten hören, oder sie zumindest der populären Letztfassung gegenüberstellen!

Die Partitur der Fünften wurde von Bruckner nie verändert, es gibt also keine »Fassungen«, weil sie zu Bruckners Lebzeiten nie aufgeführt wurde. So gab es keinen Anlass, die »zukunftweisend aufrührerischen, modernen Aspekte« (Sinkovicz) abzuschwächen oder gar zu tilgen. Im Finale stehen dem kämpferisch-robusten ersten Thema und einem eher wehmütigen zweiten plötzlich vier Strophen eines Bläserchorals gegenüber, aus dem Bruckner eine gigantische Doppelfuge entwickelt, der er schließlich das Hauptthema hinzufügt – und in der Coda bringt Bruckner zu diesem kontrapunktischen Geflecht noch das Hauptthema des ersten Satzes und beendet das Werk mit 52 Takten in brachialem Fortissimo – das ist ganz große Kompositionskunst.

Dem Publikum wird vor allem das Motiv aus dem ersten Satz bestens bekannt sein, diese Folge von sechs Tönen, die mittlerweile Fußballfans in aller Welt in den Stadien singen. Das Motiv hat sich Jack White von den White Stripes für den Song »Seven Nation Army« von Bruckner ausgeliehen: Man kann Bruckner getrost als Erfinder des Stadionrocks (oder einer Art »Stadionklassik«) bezeichnen, er schrieb sogar Musik für Zehntausende. Der Rundfunkmitschnitt von Bruckners Fünfter vom Oktober 1942 mit den Berliner Philharmonikern unter Wilhelm Furtwängler lief übrigens als Geburtstagsgeschenk zum 20. April 1944 auf Hitlers Magnetofon.

Seine Siebte Sinfonie bescherte dem Komponisten den größten Publikumserfolg seines Lebens – allerdings nicht an seinem Wohnort Wien, sondern in Leipzig, wo das Gewandhausorchester unter Arthur Nikisch das Werk 1884 aus der Taufe hob. »Was drinnen is, muaß aussa«: So lapidar vergleicht der Sprücheklopfer Bruckner seine Musik, diese »musikalischen Elementarereignisse« (Steffen Georgi), mit einem Vulkanausbruch. Eine abenteuerliche Musik.

Zu den schönsten und intensivsten Stücken Bruckners gehört das Adagio dieser Sinfonie, »sehr feierlich und sehr langsam« überschrieben. Knapp 22 Minuten benötigt Vladimir Jurowski für diese zauberische Komposition, eine Darstellung tiefer Trauer angesichts des Todes von Richard Wagner: »Einmal kam ich nach Haus und war sehr traurig, ich dachte mir, lange kann der Meister unmöglich mehr leben, da fiel mir das cis-Moll-Thema ein.«

Unter Verwendung der feierlich-düster klingenden Wagner-Tuben, die Wagner speziell für seine »Götterdämmerung« hatte bauen lassen, gipfelt das Adagio in einer atemberaubenden Steigerung. Bruckner hat es unter das Signum der Trauer »zum Andenken an den hochseligen, heißgeliebten, unsterblichen Meister« gestellt, dem er zuletzt ein halbes Jahr vor dessen Tod begegnet war: »Weil mich Hochselber bei der Hand hielt, ließ ich mich auf die Knie, Hochseine Hand an meinen Mund drückend und küssend und sagte: ›O Meister ich bethe Sie an!!!‹« Bruckner berichtet auch von der coolen Reaktion Wagners: »Nur ruhig – Bruckner – gute Nacht!!!«

Die Neunte Sinfonie konnte Bruckner nicht mehr vollenden, nur drei Sätze konnte er fertigstellen: den Kopfsatz, der einem Höhepunkt zustrebt, der haltlos in sich zusammenstürzt; ein gespenstisches Scherzo und das sich um den Tristan-Akkord drehende, bewegende Adagio, das wie der erste Satz auf einen extremen Kulminationspunkt zusteuert, der sich in einer endlos anmutenden Generalpause entlädt, um dann in einer merkwürdigen E-Dur-Verklärung fortgesetzt zu werden. In seinem Handexemplar strich Gustav Mahler die Worte »für Chor, Solostimmen, Orchester und Orgel« und korrigierte sie zu »für Engelszungen, Gottselige, gequälte Herzen und feuergeläuterte Seelen«.

Es kann nicht genug betont werden, dass die Brucknerschen Sinfonien im Idealfall live gehört, nein: erlebt werden sollten. Gerade die Maßlosigkeit, das Gigantische, das Extreme, die Gegensätzlichkeit erzeugen im Konzert einen ganz anderen Sog als auf Konserve. Dennoch können einige Vorschläge empfehlenswerter Aufnahmen dem Aufbau einer kleinen Bruckner-Audiothek dienen. Zunächst die Boxen: Herbert Blomstedt und das Gewandhausorchester haben zwischen 2005 und 2012 alle Sinfonien eingespielt und diese wunderbaren Aufnahmen zählen zu meinen liebsten. Großartige Architektur, tolle Rauschzustände; wenn nur eine Gesamtaufnahme, dann diese.

In den letzten Jahren haben die Plattenfirmen eifrig auf das Bruckner-Jubiläum hingearbeitet und ältere Aufnahmen zu teils preisgünstigen Boxen geschnürt oder neue Aufnahmen auf den Markt gebracht. Dabei sind besonders zu erwähnen: Jakub Hrůša und die Bamberger Symphoniker, die in Zusammenarbeit mit BR Klassik zu jeder Bruckner-Sinfonie alle Fassungen und zum Teil sogar Alternativ-Fragmente eingespielt haben; bei der Vierten sind das eben die drei Versionen sowie auf einer vierten CD sogar frühere Versionen einiger Passagen sowie, besonders verdienstvoll, die sogenannte »Volksfest«-Fassung des Finales von 1878. Außerdem ein hervorragendes Booklet. Auch Markus Poschner und das Bruckner Orchester Linz präsentieren sämtliche Sinfonien in sämtlichen Versionen. Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker legen alle elf Sinfonien (also inklusive der »Nullten« und der Studiensinfonie) vor, mit sattem, wohligem Klang.

Eine Referenzaufnahme sind die Sinfonien 0–9 unter Georg Tintner, einem österreichischen Dirigenten jüdischer Herkunft, der nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 nach Neuseeland emigrierte. Seine Einspielungen mit Orchestern Neuseelands, Schottlands und Irlands zeichnen sich durch hohe Transparenz und den »Wiener Klang« aus.

Wer einen völlig anderen Bruckner hören will, sollte sich mit den Konzertaufnahmen der 3.–9. von Sergiu Celibidache mit den Münchner Philharmonikern beschäftigen: eine Zen-Version sozusagen, breite Tempi und tiefes Eintauchen in die Brucknerschen Klangwelten samt aller Details. Toller Sound und Mystizismus.

Eine empfehlenswerte Gesamteinspielung gelang auch Günter Wand mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester. Und dann gibt es noch eine Gesamteinspielung, die zunächst skurril anmuten mag, aber durchaus spannende Einblicke gewährt: Hansjörg Albrecht hat Bruckners Sinfonien in Orgel-Transkriptionen eingespielt.

Darüber hinaus gibt es viele wunderbare historische Einspielungen einzelner Sinfonien, zum Teil mit eingeschränktem Klangbild, aber dafür sensationellen Interpretationen: Otto Klemperer mit dem Philharmonia Orchestra und der Vierten (der Finalsatz!); die Siebte von Oskar Fried mit der Kapelle der Staatsoper Berlin 1927 oder Jascha Horenstein mit den Berliner Philharmonikern 1928; Karajans späte Aufnahmen der Siebten und Achten mit den Wiener Philharmonikern; Furtwänglers Achte mit den Wiener Philharmonikern vom Oktober 1944 oder Wands Neunte mit dem SWR-Orchester 1979 aus der Basilika von Ottobeuren.

Und Nikolaus Harnoncourts Einspielungen der Fünften und Neunten mit den Wiener Philharmonikern sind unbedingt empfehlenswert, zumal er den fehlenden vierten Satz der Neunten anhand der vorhandenen Fragmente erstmals eingespielt hat – »Warum hat man eigentlich 100 Jahre lang gedacht, es gäbe nichts von diesem 4. Satz?«

Eine Playlist zum Geburtstag auf Spotify, zusammengestellt vom Autor gibt es hier

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