- Kultur
- Aslı Özarslan
Film »Ellbogen«: Junge Frauen dürfen wütend sein
Regisseurin Aslı Özarslan über ihren Film »Ellbogen«, die Chance der Perspektivlosigkeit und darüber, warum Nachnamen immer noch Kategorien sind
Als Sie das Buch von Fatma Aydemir gelesen haben, wollten Sie es unbedingt verfilmen – und traten dann an die Autorin heran. Was hat Sie so fasziniert?
Das war einmal dieser Drive des Romans. Er hat so etwas Roughes, aber auch eine sensible Art und Weise, die Figur zu beschreiben. Der Roman ist ehrlich und lässt viele Ambivalenzen zu. Man muss die Figuren nicht die ganze Zeit mögen. Das fand ich authentisch. Die Hauptfigur Hazal ist ambivalent. Sie ist weder Opfer noch Täterin, passt in keine Schublade – so wie es auch im echten Leben ist. Ich finde, es wird selten gezeigt, dass eine junge Frau – auch mit Migrationsbezug – bockig sein darf. Junge Leute sollten die Möglichkeit haben, noch nicht zu wissen, was sie wollen und auch mal »Nein« zu sagen. Hazal hat dieses Privileg oft nicht. All das fand ich spannend.
Vor welchen Herausforderungen steht die 17-jährige Hazal?
Bildungsgerechtigkeit würde bedeuten, dass alle jungen Menschen dieselben Chancen haben, egal was ihr Background ist. Aber das ist in Deutschland nicht gegeben. Hazal gehört zu den jungen Leuten, die das Abitur nicht geschafft haben. Sie sitzt dann in einer Maßnahme, die ihr vom Jobcenter zugeschrieben wurde. Dankeschön. Ich habe mit vielen Pädagog*innen gesprochen, die sagen, dass junge Leute mit Hauptschulabschluss wahnsinnig geringe Chancen haben, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Einerseits sucht man händeringend nach Arbeitskräften, andererseits bekommen Menschen ohne Abitur keine Chancen. Wenn ein Migrationsbezug hinzukommt, wird es noch viel schwieriger. Es gibt Leute, die Bewerbungen mit einem nichtdeutschen Namen sofort zur Seite legen. Jugendliche sind kulturellen Zuschreibungen, aber auch Vorurteilen und Rassismen ausgesetzt.
Aslı Özarslan, 1986 in Berlin geboren, studierte Theater und Medien sowie Dokumentarfilmregie. In ihrem Dokumentarfilm »Dil Leyla« (2016) begleitete sie Leyla Imret, eine deutsche Kurdin, die in der türkischen Stadt Cizre zur Bürgermeisterin gewählt wurde. »Ellbogen« (2024), auf der Grundlage des gleichnamigen Romans von Fatma Aydemir, ist ihr Spielfilmdebüt. Der Film feierte in der Sektion Generation der Berlinale Premiere und wurde unter anderem auf dem Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund/Köln ausgezeichnet.
Immer wieder sagen die jungen Frauen im Film, sie wollen keine »Opfer« sein. Welche Bedeutung hat das?
Sie nennen auch andere Menschen »Opfer«. Der Begriff ist interessant. Er gehört zur Jugendsprache und erzählt auch etwas über Hazals Clique. Ich glaube, niemand möchte ein Opfer sein, denn dabei schwingt das Gefühl der Ohnmacht mit. Wenn man ein Opfer ist, ist man nicht handlungsfähig. Deshalb versuchen die jungen Frauen immer wieder, aus dem Opferdasein rauszukommen. Es geht auch um Zuschreibungen von außen, gegen die sie sich wehren.
Hazal erlebt immer wieder Ungerechtigkeiten und Kränkungen. Ihre Gefühle entladen sich irgendwann in Gewalt, dann flieht sie nach Istanbul. Ist es für Zuschauer*innen manchmal schwer, sich mit ihr zu identifizieren?
Wir versuchen im Film nicht zu erklären, warum Hazal Dinge tut. Ich denke, dass da keine Kausalität gegeben ist. Es gibt viele Leute, die mit Perspektivlosigkeit konfrontiert sind und trotzdem niemals eine Gewalttat begehen würden. Aber natürlich steigert dies die Gefahr. Bei Hazal kommt hinzu, dass sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort ist. Ein junger Mann nimmt sich etwas heraus, von dem er glaubt, dass er das mit diesen jungen Frauen abziehen kann. Hazal und ihre Freundinnen spüren sofort wieder dieses Gefühl von Ohnmacht, denn sie haben sensible Antennen für eine bestimmte Art von Diskriminierung. Sie merken sofort, dass dieser Mensch sich über sie stellt. Es gibt einen kurzen Moment, in dem Hazal Spaß daran hat, was passiert. Aber dann kommt es zu einem Unfall. Das Ergebnis wollten die drei Frauen nicht. Die Situation dient auch als Metapher dafür, dass sie für einen kurzen Moment in einer Machtposition sind. Das war auch im Roman sehr wichtig. Fatma Aydemir hat gesagt, sie wollte sich mit dem Phänomen auseinandersetzen, dass in den Medien Migration und Gewalt häufig in einen Zusammenhang gestellt werden.
Die Gewalt ist ein Grund, warum der Film erst ab 16 freigegeben wurde. Was bedeutet das für Sie?
Wir waren sehr erstaunt über die FSK-16-Freigabe, zumal der Film auf Jugendfilmfestivals auch schon Jüngeren gezeigt wurde. Wir haben einen Publikumspreis von einer Jugendjury bekommen, an der Zwölfjährige beteiligt waren. Ich habe viele Gespräche mit Jugendlichen geführt, die den Film und die Figur gut einschätzen konnten. Sie konnten sich emotional mit Hazal verbinden, wenn auch nicht unbedingt mit ihren Handlungen. Das aber hat dazu geführt, dass ein Dialog entstanden ist und Fragen aufgeworfen wurden, mit denen sich die Jugendlichen beschäftigt haben. Deshalb finde ich es schädlich, dass der Film jungen Leuten vorenthalten wird. Fatma Aydemir hat jahrelang Lesungen an Schulen gehalten, bei denen Zwölf- bis 14-Jährige dabei waren, die den Roman gelesen hatten. Die Gründe für die Altersfreigabe sind Drogen und Gewalt. Unser Film feiert weder Gewalt noch Drogenkonsum ab. Aber er kaut einem auch keine Moral vor. Man muss am Ende selbst mitdenken. Und das traue ich jungen Leute zu.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Wie haben die Jugendlichen auf den Festivals reagiert?
Unterschiedlich. Mit das schönste Feedback war: Danke, dass du uns mit diesem Film ein Zuhause gegeben hast. Andere Jugendliche waren ganz aufgeregt und beeindruckt, dass Melia Kara als Deutsche mit türkischen Wurzeln so viel Raum bekommt und die schwierige Rolle der Hazal meistert. Natürlich gibt es auch junge Leute, die sich nicht mit der Figur verbinden können. Andere können sich sehr gut mit ihrer Sensibilität, aber auch mit ihrer Wut identifizieren.
Um die Authentizität des Buches rüberzubringen, wollten Sie mit Laiendarsteller*innen arbeiten. Sie haben auch auf der Straße gecastet. Wie kann man sich das vorstellen?
Ja, ich kam mir manchmal creepy vor, wenn ich in der U-Bahn junge Frauen beobachtet und auch angesprochen habe, wenn ich dachte: Das könnte eine tolle Clique sein. Wir hatten auch eine Street-Casterin, die richtig viel unterwegs war und Flyer verteilt hat. Und wir hatten auch eine Agentin, die über Agenturen angefragt hat. Das Ganze hat anderthalb Jahre gedauert. Mir war es wirklich wichtig, eine Laiendarstellerin zu haben. Das war auch der Grund, warum Fatma gesagt hat, sie hätte gerne, dass ich den Film mache. Ich wollte dieses Roughe und Ehrliche, Direkte aus dem Roman verkörpern. Mir war auch wichtig, dass die Jugendsprache so authentisch wie möglich ist. In vielen Filmen merke ich, wie künstlich das ist. Das stört mich enorm. Deshalb durften die Mädchen sprechen, wie sie normalerweise sprechen. Melia Kara hat dann noch mal ein halbes Jahr Coaching bekommen und ich habe mit den Mädchen Workshops gemacht, damit sie auch als Freundinnen-Clique authentisch rüberkommen.
Wie Hazal sind auch Sie in Berlin geboren und haben familiäre Wurzeln in der Türkei. Sehen Sie Parallelen zwischen Ihrem Leben und dem der Hauptfigur?
Hazal ist Berlinerin, vielleicht sogar Weddingerin. Das ist ihre Identität. Es gibt Leute, die sehen in ihr eine Figur, die zwischen zwei Kulturen lebt. Da frage ich mich, ob sie den Film überhaupt gesehen haben. Es geht um eine Frau, die aufgrund ihres Namens und ihrer Klassenzugehörigkeit an den Rand gedrängt wird. Das ist ein gesellschaftspolitisches Thema. Hazal ist nicht daran schuld. Und wir erzählen auch nicht, dass sie Probleme damit hat, zwischen zwei Kulturen zu leben. Aus meiner eigenen Erfahrung muss ich sagen, dass ich das immer als wahnsinnig bereichernd empfunden habe und persönlich nie im Konflikt stand. Aber von außen wurde ständig meine Identität problematisiert. Deshalb war für mich eine wichtige Funktion des Films zu erzählen, wie viel auf Hazal projiziert wird.
Das heißt, seit Ihrer Jugend hat sich nichts getan?
Ich weiß nicht. Es gab eine Zeit, in der ich dachte: Wow, es bewegt sich gerade total. Jetzt aber habe ich das Gefühl, dass wir dieselben Debatten führen wie in den 90ern. Das finde ich wahnsinnig ermüdend. Ich bin jetzt Ende 30 und habe mich relativ früh mit Themen beschäftigt, die etwas mit Migration oder Identität zu tun hatten. Oder besser: Ich musste mich damit beschäftigen, weil das immer auf mich projiziert wurde. Man wirft Leute mit Migrationshintergrund oft in einen Topf, dabei ist der Begriff so schwammig. Hazal weiß gar nicht, was das ist, zu migrieren – bis sie selbst in die Türkei geht. Ich habe oft das Gefühl, dass es keine Differenziertheit in den Begrifflichkeiten gibt. Man macht es sich einfach.
»Ellbogen«: Deutschland 2024. Regie: Aslı Özarslan. Mit: Melia Kara, Jamilah Bagdach, Asya Utku. 86 Min., läuft im Kino.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.