Götter in Prunk und Menschen in Grau

Textile Texte (letzte Folge): Zwischen Polyester und Tüll an einem Abend in Stuttgart

  • Ronja Sandtner
  • Lesedauer: 4 Min.
Gilt heute als nachhaltig und ökologisch: Leinen, wie es Robert Redford schon 1985 trug, im Film »Jenseits von Afrika«
Gilt heute als nachhaltig und ökologisch: Leinen, wie es Robert Redford schon 1985 trug, im Film »Jenseits von Afrika«

Es beginnt mit einem spontanen Entschluss zu einem Besuch in Stuttgart. Der Plan für den Abend steht – es geht ins Theater, mit günstigem Studierendenrabatt. Kaum ist man auf der Straße, landet man im Geflecht der Textilien. Der Hauptbahnhof, weiterhin eine Baustelle, pulsiert: Die Umleitungen bündeln alle Ankommenden und Abfahrenden auf den engen Bahnsteigen. Stoffe unterschiedlichster Art stehen ungewollt eng beisammen. Das Kofferrollen vermischt sich mit Durchsagengeschrei und lauten Telefonaten. Hier sind alle mehr oder weniger für sich – vielleicht nur vereint in der Eile und Hektik.

Textile Texte

Mode und Verzweiflung: In diesem Sommer beschäftigt sich das nd-Feuilleton mit Hosen, Hemden, Hüten und allem, was sonst noch zum Style gehört.

Neben dem Bahnhof führt der Weg zum Theater durch einen Chor in roten Trikots, das nächste Gedrängel. Und einmal eingetaucht in den roten Schwarm stellt man fest: Hier gehören alle kompromisslos zusammen. Sie strömen von überall herbei, bereits in kleinen Grüppchen, tummeln sich, belegen all die Biergartengarnituren vor dem großen Bildschirm, alle vereint und nah beieinander, um ihr Team zu unterstützen – und darauf Prost! Hier wird geschwitzt unter dem Polyester, und auch das schweißt zusammen, denn diese Trikots sind wichtig, um Farbe zu bekennen.

Das Material Polyester wurde erst in den 70er Jahren populär, Adidas sei Dank, endlich wurden die schweren Baumwolltrikots ausgetauscht und die neue Sportkleidung für die Spieler*innen im wahrsten Sinne des Wortes leichter zu (er)tragen. Neben der Funktion der Feuchtigkeitsableitung erkannte man schnell weitere Vorteile. Vor allem die Sponsoren freuten sich über die Möglichkeit, sich mit leuchtenden Farben und komplexeren Designs in den Polyester einzuschreiben. Die weitere Kommerzialisierung machte die Trikots in den 80ern und 90ern schließlich zum Fanartikel Nummer eins.

Nun aber schnell weitergehuscht. Dahinter im Park auf einmal das laute Klackern von Hufen auf dem Asphalt. Ein paar wenige Uniformierte patrouillieren in Dunkelblau auf dem Rücken großer Vollblüter. Wo die Massen sind, sind die Ordnungshüter nicht weit. Dieser Habitus auf hohem Ross wirkt wie ein Relikt aus vergangener Zeit – die Helme sitzen, der Schlagstock auch, das Dunkelblau steht für Macht und Autorität. Während die Jacken und Hosen früher aus schwerer Baumwolle waren, bestehen die Uniformen heute häufig aus Mischgeweben, die Polyester und Baumwolle kombinieren, um Atmungsaktivität, Haltbarkeit und Bewegungsfreiheit zu gewährleisten. Bei der berittenen Polizei kommen Reithosen und Stiefel dazu. Man wird stumm von oben herab gemustert und darf passieren – oder wird vielmehr passiert.

Vor dem Theater dann wieder ein ganz anderes Bild: Elegante Handtaschen schwingen an den Armen, lockere Leinenhosen in pastelligen Tönen und grüne Adidas-Sneaker kombinieren lässige Eleganz mit urbaner Coolness, akzentuiert durch dezenten Lippenstift und schwarze Brillen. Hier, vor dem Foyer aus Glas, offenbart sich keine uniformierte, aber doch klar erkennbare Gruppe; um die Stehtische versammelt, wird förmlich an den Weingläsern genippt. Fein gewebtes, hochwertiges Leinen war schon in der Antike ein Zeichen von Reinheit, Wohlstand und Eleganz, während grobes Leinen vor allem im Mittelalter funktionale Zwecke in den unteren Schichten erfüllte. Heute gilt Leinen als besonders nachhaltig und ökologisch bewusst.

Weiter geht’s hinein in den Theatersaal, in dem sich vor allem auf der Bühne ein textiles Donnerwetter entfaltet: giftgrüner Ganzkörperoverall, pompöses Goldkleid mit Puffärmeln in Übergröße, ausladender Tüll unter einem totenkopfbedruckten Longsleeve, flammende Schuhe und rote Lack-Highheels – kontrastiert von einem Chor in beigefarbener Bundfaltenhose. Als wäre das Motto der Ödipus-Inszenierung Götter in Prunk und Menschen in Grau.

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Hier wird Mode zur Kunst. Auf der Bühne übernehmen die Materialien eine symbolische und narrative Funktion. Und was auf einer Bühne nicht fehlen darf, ist ganz klar Tüll. Nicht nur im Ballett des 20. Jahrhunderts sorgte es für Aufsehen, sondern entwickelte sich als bedeutender Stoff in der Modewelt, von Schleiern und Unterröcken für die romantische Hochzeitsmode bis hin zu den kreativen Formen auf Laufstegen im avantgardistischen Design.

Da zieht man nichts ahnend los, hinein in einen lauen Sommerabend und merkt auf einmal: Kleidung markiert ganz klar, wer wo hingehört – vor die Leinwand, auf die Pferderücken, in den Zuschauersaal, auf die Bühne. Und Kleidung legt anscheinend fest, wer welche Aufgabe hat – grölen, kontrollieren, klatschen, spielen. Die Textilien schaffen eine Art unausgesprochene Zugehörigkeit, ein Gruppengefühl und ein erleichtertes Sich-Erkennen in der Anonymität der Masse. In einer Gesellschaft, die immer weniger starren Konventionen folgt, bleibt Mode ein wichtiges Kommunikationsmittel. Sie erzählt von sozialen Klassen, persönlichen Vorlieben und kulturellen Strömungen. Es gibt die Orte der geplanten Zusammenkunft, aber auch die Orte der ungewollten Stoff-Vermischung. Textilen sind ein persönliches, aber vor allem auch allgemeines Ausdrucksmittel von Zugehörigkeit und Abgrenzung.

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