Mehr gehen nicht

Vervielfältigung als Methode: Am Wiener Burgtheater wurde ein »Hamlet« neu in Szene gesetzt

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 4 Min.
Benny Claessens und sehr viel Geist auf der Bühne des Burgtheaters
Benny Claessens und sehr viel Geist auf der Bühne des Burgtheaters

Und jetzt alle zusammen: Am Wiener Burgtheater gibt’s zur Eröffnung der neuen Intendanz ganz viel Chorisches. Nicht so wuchtig wie damals bei Einar Schleef, eher zart. In »Hamlet« wuseln gleich fünf Dänenprinzen über die Bühne, in »Orlando« sind es gar sieben Titelhelden, die über Nacht zur Titelheldin werden. Und in »Johann Holtrop«, vom neuen Intendanten Stefan Bachmann aus Köln mitgebracht, wird auch viel gemeinsam und im Gleichtakt gesprochen. Ist das ein neuer Stil am größten der österreichischen Sprechtheater? Ist nun die Zeit der großen Einzelmimen endgültig vorbei?

Auf der Bühne und dahinter sieht es nach neuem Zusammenhalt aus, den man unter Bachmanns Vorgänger wohl vermisste. Als erste Teambuilding-Maßnahme wurde nun das Chefbüro zum Mitarbeiterraum umgewidmet, Balkonbenutzung mit Blick auf die Ringstraße inklusive. Nach »Hamlet« wurden bei der Premierenfeier sogar Freigetränke angeboten, was es nach übereinstimmenden Angaben in diesen ehrwürdigen Hallen nie zuvor gegeben haben soll. Selbst die Programmhefte kommen freundlich und sehr serviceorientiert daher, sie schmeicheln durch aufs Minimum reduzierten Leseaufwand.

Nach Heiner Müller (»Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf«) heißt mehr ja nicht unbedingt besser. Was also sagen uns fünf Hamlets oder sieben Orlandos? Das Individuum wird zum Dividuum, Teilbares statt Unteilbares. Unter dem Stichwort »Kapitalismus und Schizophrenie« wurde das in der französischen Philosophie der 1980er Jahre verhandelt, die Schizoanalyse war schwer in Mode. Die Aufspaltung von Bühnenhelden hat man seitdem im Theater häufiger gesehen, mal mehr und mal weniger inhaltlich motiviert. Für hübsche szenische Einfälle ist das allemal geeignet.

In Karin Henkels »Hamlet« hat nicht nur der Wahnsinn, sondern auch die Vervielfältigung Methode. Nicht eine Bühne, sondern gleich drei setzt Katrin Brack vor den mit bunten Pappwolken behangenen Hintergrund. Der Geist des Vaters? Ist eine ganze Schar aus der Vergangenheit, die mit ihren Laken aussehen wie das kleine Gespenst von Otfried Preußler. »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?« ist das neue »Sein oder Nichtsein«, der radikale Zweifel des Subjekts an der eigenen Substanz. Die Rollen wechseln, weil sich auch in unserer Gegenwart manche Rollenerwartungen verflüssigen – und andere nicht.

Was der rachelustige Zauderprinz der Schauspielertruppe für die »Mausefalle« mitgibt, wird aufs gesamte Stück erweitert. Statt Theater im Theater gibt es nun Theater über Theater, alles wird selbstreflexiv gewendet. »Wir können auch chorisch«, tönt es von der Bühne. Man wusste es freilich schon, Lacher gibt’s trotzdem. Man feiert die Vielfalt der Theaterspielformen und auch ein bisschen sich selbst. Darüber vergisst man zum Ende fast die Handlung, die man nur zusammengefasst bekommt. Alle tot, aber nicht wegen Atomkrieg oder Naturkatastrophe. Immerhin. Der Rest ist Schweigen, sagt ein Kind.

In »Orlando« im Akademietheater, nach dem Roman von Virginia Woolf, ist am Ende auch kurz Schweigen, ein Moment der Ratlosigkeit nach einer Reise durch die Epochen und Geschlechter, die Therese Willstedt vor einem plastikverhangenen und prächtig beleuchteten Halbrund inszeniert. Auch hier wird das Zerfließen von Rollenerwartungen im Ansatz aufgegriffen, jeder spielt hier jeden und für jeden. Multiple Persönlichkeit als Theaterteamwork. Die Bilder tragen hier weiter als das, was sie befördern könnten, so bleibt nach all dem schönen Aufwand doch ein Hauch schnöder Belanglosigkeit.

»Die Kunst, viele zu bleiben« ist ein Slogan, mit dem zurzeit aus Theaterkreisen für so große Sachen wie Kunst, Freiheit und Demokratie Werbung gemacht wird. Es scheint, dass man die Botschaft auch in Wien vernommen hat und die Kunst der Vielen als Chor auf die Bühne bringt. Mit Blick auf die Nationalratswahlen Ende September, aus denen die FPÖ als Wahlsieger hervorgehen könnte, lässt sich der Kunstgriff auch als Versuch einer politischen Aussage lesen, der sich gegen Vereinheitlichung und Vereindeutigung wendet. Man könnte auch sagen: »Alle zusammen« statt »Für alle reicht es nicht«.

Nächste Vorstellungen: 11., 28. September und 11. Oktober
www.burgtheater.at

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