Krieg im Nahen Osten: Fake-News-Vorwurf an »Bild«-Zeitung

Israelisches Militär untersucht Veröffentlichung geleakter Dokumente

Auf einer Pressekonferenz zeigte Israels Premier Netanjahu vergangene Woche den Philadelphi-Korridor, den das Militär aus seiner Sicht nicht verlassen soll. Für diese Position könnten die Medienberichte nützlich gewesen sein.
Auf einer Pressekonferenz zeigte Israels Premier Netanjahu vergangene Woche den Philadelphi-Korridor, den das Militär aus seiner Sicht nicht verlassen soll. Für diese Position könnten die Medienberichte nützlich gewesen sein.

»Zum Schaudern« titelte die Bild-Zeitung am Freitag vergangener Woche zu einem Dokument des militärischen Geheimdienstes der Hamas, das auf dem Computer ihres Führers Yahya Sinwar gefunden worden sein soll. Daraus gehe hervor, dass die Hamas internationale Verhandlungen über die in den Gazastreifen verschleppten Geiseln in die Länge ziehen wolle und kein Interesse an einem schnellen Waffenstillstand habe.

Das angeblich von Sinwar »persönlich abgesegnete« Dokument aus dem Frühjahr 2024 »liegt Bild exklusiv vor«, schreiben die Autoren Paul Ronzheimer und Filipp Piatov. Jedoch haben verschiedene Medien in Israel an der Berichterstattung erhebliche Zweifel und vermuten hinter dem Leak den Versuch, die öffentliche Meinung im Land zu beeinflussen.

Wegen dieses Verdachts hat das israelische Militär inzwischen eine Untersuchung eingeleitet. Zudem sei festgestellt worden, dass das laut Bild-Zeitung »geheime Kriegspapier des Terror-Bosses« nicht von Sinwar selbst stamme, sondern von einem niedrigeren Hamas-Funktionär, erklärt ein Militärsprecher auf schriftliche Nachfrage des »nd«. Nun soll aufgeklärt werden, auf welchem Weg die Informationen nach Deutschland fanden. Die Weitergabe stelle ein schweres Vergehen dar. Auch seien die im Dokument enthaltenen Informationen längst bekannt gewesen, so der Sprecher.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Auch die Zeitung »Jewish Chronicle« hat vor einer Woche eine Sensationsmeldung zu dem Hamas-Führer veröffentlicht – einen Tag vor der »Bild«. Darin behauptet die älteste jüdische Zeitung Großbritanniens, Sinwar und andere hochrangige Hamas-Mitglieder planten, Geiseln durch den sogenannten Philadelphi-Korridor zwischen Gaza und Ägypten in den Iran oder den Jemen zu schmuggeln. Diese Informationen basierten auf Aussagen, die bei der Vernehmung eines hochrangigen Hamas-Mitglieds gemacht und in beschlagnahmten Dokumenten gefunden worden seien. Israels Militär habe diese Dokumente am 29. August beschlagnahmt, dem Tag, an dem sechs Leichen von ermordeten Geiseln geborgen wurden, schreibt die Zeitung.

Auch diese Darstellung haben andere Journalisten nun widerlegt. Bereits am Tag nach der Veröffentlichung berichtete der israelische Fernsehsender »Kanal 12«, dass »alle relevanten Quellen im Sicherheitsapparat« nichts von den angeblichen Informationen und Dokumenten wüssten. Es sei sogar festgestellt worden, dass die gesamte Geschichte des »Jewish Chronicle« eine Erfindung gewesen sei, schreibt der Journalist Ronen Bergman im israelischen Nachrichtenmagazin »Ynet« unter Berufung auf vier Quellen aus Israels Geheimdiensten. Demnach bezeichnete auch ein israelischer Militärsprecher die Behauptungen im »Jewish Chronicle« als »haltlos«.

Autor des Artikels ist ein Mann namens Elon Perry, der in der Vergangenheit mehrfach Falschinformationen veröffentlicht haben und dessen angebliche Biografie weitgehend erfunden sein soll, schreibt das im Internet erscheinende »972 Magazin«. Auch seine Behauptung, er habe an der »Operation Entebbe« teilgenommen, bei der Spezialeinheiten im Jahr 1976 ein von palästinensischen und deutschen Militanten entführtes Passagierflugzeug der Air France gestürmt hatten, erwies sich nach einer Recherche als falsch. Auf eine Presseanfrage des »nd« zu seinem Artikel antwortete der »Jewish Chronicle« nicht.

In der israelischen Öffentlichkeit wird seit einer Woche diskutiert, zu welchem Zweck die Journalisten Perry, Piatov und Ronzheimer die mutmaßlichen Falschinformationen gestreut haben könnten. Israels Militär habe die Echtheit des Dokuments, über das die »Bild« berichtete, »nach der Publikation offiziell bestätigt«, antwortet die zum Springer-Konzern gehörende Zeitung dazu auf Anfrage des »nd«.

Von einem israelischen Militärsprecher erhielt das »nd« allerdings am Telefon eine wichtige Zusatzinformation: Man habe einem der Bild-Journalisten explizit gesagt, dass das »Geheimdokument« nicht von Hamas-Chef Sinwar stammt. Warum also haben es die beiden anders dargestellt?

Kann es sein, dass Piatov und Ronzheimer das aus ihrer Sicht »geheime Kriegspapier« falsch interpretiert haben? Die Passage, die »Bild« zum angeblichen Desinteresse der Hamas an einem Geisel-Deal zitiert, finde sich darin nicht, will der Journalist Bergman herausgefunden haben. Die »Geheimdienstgemeinschaft« interpretiere die enthaltenen Informationen zudem genau entgegengesetzt, die Hamas sei also sehr wohl an einer Einigung zu den Geiseln interessiert.

Der vermeintliche Scoop des »Jewish Chronicle« wurde von rechtsextremen israelischen Medien und Influencern aufgegriffen und verstärkt. Auch soll sich anschließend Sara Netanjahu, die Ehefrau des Premierministers, mit Eltern der in Gaza festgehaltenen Geiseln getroffen und dabei gesagt haben: »Es gibt Berichte, dass [die Hamas] mit den Geiseln nach Iran fliehen wird«, soll sie den Angehörigen gesagt und die britische Zeitung gemeint haben.

In Israel wird deshalb vermutet, dass Premierminister Benjamin Netanjahu hinter der Einflusskampagne stecken könnte. Zwei Tage vor dem Bericht im »Jewish Chronicle« hatte dessen Büro eine Pressekonferenz einberufen, um zu erklären, warum israelische Truppen im Philadelphi-Korridor in Gaza bleiben sollten – auch wenn dies weitere Verhandlungen mit der Hamas unmöglich machen könnte. Über die als »exklusiv« bezeichneten Medienberichte aus dem Ausland könnte Netanjahu also versucht haben, ein Scheitern eines Geisel-Deals der Hamas in die Schuhe zu schieben.

Bei der »Bild« ist der fragwürdige Artikel weiterhin online, ebenso bei dem »Jewish Chronicle«. Dort hat die Redaktion jedoch am Donnerstagmorgen ein Statement online gestellt, wonach man die israelischen Gegenrecherchen ernst nehme und den Artikel prüfe.

In der ursprünglichen Version dieses Artikels stand, der israelische Militärsprecher Daniel Hagari bestätigte in einem Telefonat mit dem »nd«, dass die Armee der »Bild« gesagt habe, dass das »Geheimdokument« nicht von Hamas-Chef Sinwar stamme. Da im Nachhinein nicht mehr eindeutig festgestellt werden konnte, welcher IDF-Sprecher mit dem »nd« telefoniert hatte, haben wir Hagaris Namen entfernt.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!