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Das Singuläre ist nie banal
Lyndsey Stonebridge offeriert Hannah Arendts Lektionen in Liebe und Ungehorsam
Wann, wenn nicht jetzt? In einer Welt voller totalitärer Regime, voller populistischer fake news, voller Kriege und Imperialismus lohnt es nicht nur, Hannah Arendt wieder zu lesen – es wird zur Pflicht! Ihre Werke sind lieferbar, aber ganze Generationen haben sie nicht gelesen. Ihre Aufforderung zu denken wird zu oft delegiert an ideologische Vordenker, an Vorprediger, an Oberbefehlshaber. Das eigene Hirn kann und sollte man bei der Lektüre ihrer Werke nicht ausgeschaltet lassen. Gerade, weil auch sie mitunter irrte oder sich selbst widersprach.
Die englische Professorin für Geisteswissenschaften und Menschenrechte an der Universität Birmingham, Lyndsey Stonebridge, breitet den ganzen Kosmos der politischen Philosophin vor dem geneigten Lesepublikum aus. Das ist ganz im Sinne Arendts kritisch, zugleich voller Empathie für deren Grundaufforderung, selbst zu denken. Die Autorin durchstreift markante Stationen und Wendemarken des Lebens ihres Vorbilds. Sie flicht eigene Erlebnisse und Gedanken ein. Nicht nur Arendts Hauptwerke sind Gegenstand ihrer Analyse, sondern auch kleinere Arbeiten und Aufsätze, sowie die Liebe der Schülerin zu ihrem Lehrer Martin Heidegger, so sie sich in die fließende Erzählung fügt.
Natürlich steht das erste große Werk mit dem deutschen Titel »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, mit dem Arendt ihren Ruf als maßgebliche Intellektuelle begründete, im Vordergrund der Reflexionen von Stonebridge. Das 1951 vollendete Buch »schoss in den Monaten nach der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 auf den amerikanischen Bestsellerlisten nach oben und im ersten Jahr von dessen Präsidentschaft steigerten sich die Verkaufszahlen um insgesamt über 1000 Prozent«, weiß die Autorin. Das Versiegen eines offenen Diskurses zwischen denkenden Menschen hatte zum Totalitarismus geführt beziehungsweise diesen gestützt. Das hatte in Deutschland das Erstarken der Nazis begünstigt. Gleiches gilt für den Stalinismus. Überall in der Welt, wo totalitäre Regime wie Pilze aus dem Boden wuchsen oder wachsen, war es ähnlich: Lügen, falsche Prophezeiungen, Manipulationen unterhöhlen und zerstören jedes demokratische Gemeinwesen.
Stonebridge geht die Werke und Äußerungen von Ahrendt chronologisch durch. An zwei Stellen hat sie Vorbehalte: Einerseits hinsichtlich Ahrendts Reaktion auf »Little Rock« (1957), als eine afroamerikanische Schülerin zusammen mit anderen gegen massiven weißen Widerstand ihr vom obersten Gericht der USA verbrieftes Recht erkämpfte, auf eine staatliche Schule zu gehen. Die Autorin wirft Ahrendt vor, die fundamentale Bedeutung des Kampfes für die Gleichberechtigung aller Hautfarben unterschätzt zu haben. Obwohl Ahrendt schon aus eigener Erfahrung gegen jede Form des Rassismus eingestellt war, habe sie für den Kampf des schwarzen Amerikas gegen die Rassentrennung keinen adäquaten Zugang gefunden. Auch gegen ihren Bericht »Eichmann in Jerusalem« erhebt Stonebridge Einwände: Die Form eines »Schauprozesses« in Sachen Judenmord habe nach Ahrendt nicht den eigentlichen Angeklagten Eichmann vor Gericht gebracht. Und das Wort von der »Banalität des Bösen«, dass Arendt zugeschrieben wird, sei bereits kurz nach Kriegsende in einem Briefwechsel zwischen Ahrendt und Karl Jaspers gefallen – allerdings in Jaspers Schreiben. Zudem wendet Stonebridge ein, seien Eichmann und sein mörderisches Organisationstalent keinesfalls »banal« gewesen. Allein das Singuläre ist nie banal. Mit der Shoah haben sich die Nazis an der gesamten Menschheit vergangen. Das habe Ahrendt zwar auch in ihrem zuerst im »New Yorker« erschienenen Prozessbericht geschrieben, dafür aber nicht immer den richtigen Ton gefunden.
Dennoch regt dieses Buch über Hannah Arendt zum eigenen Nachdenken und auch Handeln im Sinne der Protagonistin an.
Lyndsey Stonebridge: Wir sind frei, die Welt zu verändern. Hannah Arendts Lektionen in Liebe und Ungehorsam. A. d. Engl. v. Frank Lachmann. C.H. Beck, 351 S., geb, 26 €.
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