Bewusstwerdung des Unbewussten

Geburtsstunden und Entwicklung der modernen Psychotherapie

Die berühmte Couch Sigmund Freuds erlebte die Anfänge der Psychoanalyse.
Die berühmte Couch Sigmund Freuds erlebte die Anfänge der Psychoanalyse.

War Sigmund Freud ein genialer Wissenschaftler oder nur ein begnadeter Geschichtenerzähler? In jedem Fall revolutionierte er das Denken und eröffnete das »Jahrhundert der Psychologie«, wie Steve Ayan den Zeitraum vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1970er im Untertitel seines Buches »Seelenzauber« nennt.

Ausgangspunkt bildet die neue Behandlungsform, die »Psychoanalyse«. Die psychischen Leiden der Patientin »Anna O.«, die damals noch als Hysterie bezeichnet wurden, führt Freud gemeinsam mit dem behandelnden Arzt Josef Breuer auf die Verdrängung unbewusster sexueller Wünsche und dem Gedächtnis nicht zugängliche Erlebnisse zurück. Damit rückt fortan das ins Interesse der Seelenkunde, was zuvor tabuisiert worden war: die Libido und die unterdrückten wie gelebten Wünsche. Wie solche Zusammenhänge im Falle konkreter Patientinnen diagnostiziert werden, wirkt allerdings reichlich konstruiert. Ein Extrembeispiel dafür sind die Experimente des Freud-Anhängers Carl Gustav Jung, der allein aufgrund von Wortassoziationsketten Diagnosen stellte. Jung wurde später Präsident der von Freud mitgegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, bevor er dann bei seinem Vorbild in Ungnade fiel und es zum Bruch kam. Und mit Freuds wachsender Anhängerschaft differenzieren sich auch die Ideen der psychoanalytischen Bewegung aus, was deren Begründer allerdings nicht duldet.

Während Freud bei seiner Analyse noch bei dem Bewusstwerden des Unbewussten ansetzt, propagieren Zeitgenossen und Nachfolger wie Otto Gross und Wilhelm Reich, gegen Scham und Triebverzicht anzugehen und die aufgestaute Libido zu befreien. Andere Psycholog*innen sehen hingegen weitere Triebkräfte im Mittelpunkt, wie Alfred Adler das Minderwertigkeitsgefühl des Kindes. Sabina Spielrein schließlich fügt dem Fortpflanzungstrieb einen Zerstörungstrieb hinzu, wobei beide eine Einheit des Werdens und Vergehens bilden.

»Freuds klinische Geschichten sind großartige Literatur.«

Steve Ayan Psychologe

»Freuds klinische Geschichten, die sämtlich in den Nullerjahren entstehen, sind großartige Literatur«, befindet Autor Steve Ayan. Der Wiener Psychoanalytiker Freud setzt demnach in erster Linie auf anekdotische Fallberichte, die auch literarisch gut durch komponiert seien. Einer, der Freuds Fallbeispiele einer vernichtenden Kritik unterzieht, ist der Begründer des Behaviorismus, John B. Watson. Ziel und Weg der Psychoanalyse blieben intransparent. Dagegen will der Amerikaner die Psychologie als einen objektiven und experimentellen Zweig der Naturwissenschaften setzen. Menschen lassen sich laut seiner Theorie ähnlich konditionieren wie die Pawlowschen Hunde. Daraus schließt er aber, dass sich auch Ängste auf dem Weg der Konditionierung wieder verlernen lassen – eine grundlegende Idee der Verhaltenstherapie, die fortan auch von verschiedenen Psycholog*innen weiterentwickelt wird. Als weiterer, empathischerer, Therapieansatz bildet sich die Gesprächstherapie heraus.

Der Wissenschaftsjournalist und Psychologe Steve Ayan beschreibt anschaulich die Strömungen und die Vertreter*innen der Psychologie eines Jahrhunderts – einschließlich des Narzissmus und des zum Teil fragwürdigen Umgangs mit Patient*innen.

Einen Einschnitt in dieser Geschichte stellen der Nationalsozialismus und die Verfolgung von Jüd*innen in Europa dar. Viele der Psycholog*innen waren wie Sigmund Freud Jüd*innen, wurden mit Berufsverboten belegt, mussten fliehen oder wurden gar ins Konzentrationslager deportiert.

Mit dem Heidelberger Arzt und Gründer des Sozialistischen Patientenkollektivs, Wolfgang Huber, kommt das Jahrhundert der Psychologie in Ayans Nacherzählung quasi an sein Ende. Denn wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse alleinige Ursache seelischen Leids sind, wie es Huber annimmt, dann braucht man sich nicht mehr mit individueller Therapie aufhalten, sondern tut besser daran, das System zu stürzen. Dieser Idee war wenig Erfolg beschieden, die Psychotherapie hingegen erfreut sich großer Nachfrage, wobei in der Therapie miteinander kombiniert werden darf, was den einzelnen Patient*innen hilft.

Steve Ayan: Seelenzauber. Aus Wien in die Welt – Das Jahrhundert der Psychologie. dtv 2024, 400 S., 26 €.

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