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»Hab’ ich das jetzt auch?«

Der Psychologe Christian Mette über Folgen des ADHS-Booms in sozialen Medien

  • Interview: Angela Stoll
  • Lesedauer: 6 Min.
Erwachsenen mit ADHS erscheinen alltägliche Anforderungen oft so hoch, dass sie nicht weiter wissen.
Erwachsenen mit ADHS erscheinen alltägliche Anforderungen oft so hoch, dass sie nicht weiter wissen.

In den sozialen Medien ist ADHS ein Trend-Thema. Sehen Sie die Gefahr, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene daher vorschnell die Diagnose zuschreiben?

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Zum einen können soziale Medien und das Internet generell dazu beitragen, dass eine Störung, die vorher nicht so bekannt war, sichtbarer wird. Das führt dazu, dass sich mehr Leute, die diese Diagnose wirklich haben, da auch wiederfinden. Auf der anderen Seite entsteht die Gefahr, dass jemandem eine Diagnose zugeschrieben wird, die vielleicht gar nicht zutrifft. Dazu verleitet aber auch das Störungsbild: Die drei Hauptsymptome der ADHS, also Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, sind häufig bei jeder psychischen Störung zu finden. Daher ist es wichtig, die Symptomatik genau zu analysieren. Sie darf nicht nur in einem Lebensbereich, etwa im Beruf, auftreten, sondern muss sich durch mehrere Bereiche hindurchziehen.

Was bedeutet der Hype für Menschen, die wirklich betroffen sind?

Ich bekomme dazu in meiner Praxis häufig ein Feedback von Betroffenen. Sie sehen das teilweise kritischer als ich, weil sie sagen: »Ich leide schon mein ganzes Leben unter ADHS und auf einmal erzählt mir jeder: ›Ich habe das auch!‹« Das ist die Problematik des unreflektierten Übernehmens. So eine Störung muss immer durch eine Expertin oder einen Experten diagnostiziert werden, was sehr aufwändig ist. Das Internet kann das nicht leisten.

Wie häufig ist die Störung bei Erwachsenen?

Man kann davon ausgehen, dass in Deutschland drei bis fünf Prozent die Kriterien einer ADHS erfüllen. Das entspricht ungefähr zweieinhalb bis drei Millionen Menschen im Erwachsenenalter.

Das ist eine hohe Zahl. Kann ADHS im Erwachsenenalter neu auftreten?

Ich bin da sehr kritisch. Aus meiner Sicht ist es eine Störung, die im Kindes- und Jugendalter beginnt und im Erwachsenenalter fortbestehen kann. So ist auch die Studienlage. Japanische Kollegen argumentieren in einer Studie folgendermaßen: Die Patienten, bei denen ein später Ausbruch, also »Late Onset«, vermutet wird, haben ein hohes Coping-Verhalten und eine höhere Resilienz im Vergleich zu einer Kontrollstichprobe. Das bedeutet: Wenn sich ADHS erst im Erwachsenenalter zeigt, kann es gut sein, dass die Betroffenen schon immer damit gelebt haben und mit ihren Strategien bislang gut klarkamen. Jetzt haben aber andere Stressoren dazu geführt, dass sich die Störung doch bemerkbar macht.

Bei wie vielen Menschen bleiben die Symptome bestehen, wenn sie erwachsen werden?

Studien haben ergeben, dass etwa 50 bis 60 Prozent der betroffenen Kinder auch noch Probleme im Erwachsenenalter haben. Ich gehe davon aus, dass es sogar noch mehr sind.

Was kann dazu beitragen, dass Kinder die Probleme loswerden?

Zunächst einmal: Die Symptomatik verändert sich im Zuge des Heranwachsens. Unaufmerksamkeit und Impulsivität bleiben erhalten, aber die Hyperaktivität kehrt sich nach innen. Betroffene nehmen das oft als subjektives Unruhegefühl wahr. Sie haben das Symptom also weiter, sind aber nicht mehr so hippelig wie viele Kinder. Die Behauptung »Das wächst sich aus« ist also ganz großer Blödsinn. Vereinzelt gibt es allerdings Patientinnen und Patienten, die als Erwachsene die ADHS-Kriterien nicht mehr erfüllen. Das sind diejenigen, die früh diagnostiziert und behandelt wurden und ein supportives, also stützendes Umfeld haben.

Worauf kommt es bei der Diagnose an?

Bei fast jeder psychischen Störung findet man Konzentrationsprobleme und kognitive Einbußen. Daher ist es wichtig, sich bei der Diagnose von ADHS an die offiziellen Kriterien und Richtlinien zu halten. Zusätzlich muss man aber auch klären: Lassen sich die Symptome auf medizinische Faktoren, etwa eine Schilddrüsenfehlfunktion, zurückführen? Gibt es andere psychische Störungen, zum Beispiel eine Depression oder Sucht? Außerdem ist es bei ADHS im Erwachsenenalter extrem wichtig zu belegen, dass die Diagnosekriterien schon in der Kindheit und Jugend erfüllt wurden. Um diesen retrospektiven Nachweis zu erbringen, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Gespräche mit Angehörigen, vor allem den Eltern, und die Analyse von Grundschulzeugnissen.

Stimmt es, dass die Störung oft zusammen mit weiteren Krankheiten auftritt?

Ja. Man muss davon ausgehen, dass 60 bis 80 Prozent der Erwachsenen mit ADHS mindestens eine psychische Begleiterkrankung haben. Die häufigste ist eine Depression. Je länger jemand eine unbehandelte ADHS hat, desto höher ist die Gefahr, Begleiterkrankungen zu entwickeln.

Wie werden Erwachsene mit dieser Diagnose behandelt?

Nach den therapeutischen Leitlinien ist das psychopharmakologische Mittel der Wahl, das angeboten werden sollte, Methylphenidat – also das, was im Volksmund Ritalin genannt wird. Zusätzlich kann nach den Leitlinien Psychotherapie vorgeschlagen werden. Wichtig ist, die Patienten aufzuklären und selbst entscheiden zu lassen. Ich empfehle immer eine Psychotherapie. Wer diese Symptomatik ein ganzes Leben lang hat, macht häufig negative Erfahrungen in Schule, Beruf oder bei sozialen Interaktionen. Irgendwann entwickelt man Denkmuster wie: »Ich schaffe das nicht! Ich bin ein Versager!« Diese Denkmuster kriegen Sie nicht mit Pillen weg.

Ist es richtig, dass ADHS bei Frauen bislang zu selten erkannt wird?

Ja. Das liegt daran, dass sich die Störung bei Mädchen häufig anders äußert. Sie haben öfter den unaufmerksamen ADHS-Subtypus, sind also eher ruhig und träumerisch. Dadurch fallen sie häufiger durch das Raster.

Jeder ist mal unkonzentriert oder schlecht organisiert. Wann sind solche Symptome so ausgeprägt, dass man an ADHS denken sollte?

Wie bei anderen psychischen Störungen gilt: Wenn Leidensdruck besteht und die Symptome mindestens sechs Monate vorherrschen. Wichtig ist bei ADHS außerdem, dass die Symptomatik bereits seit der Kindheit beziehungsweise Jugend vorliegt. Ansonsten kann sich die typische Unaufmerksamkeit in Form von Konzentrationsproblemen, Vergesslichkeit und Desorganisation äußern. Hyperaktivität macht sich bei Erwachsenen oft als subjektives Unruhegefühl bemerkbar. Vielen macht außerdem Impulsivität zu schaffen. Sie kann zu Problemen in der Teamarbeit, aber auch bei sozialen Interaktionen und Partnerschaften führen. Hinzu kommen häufig Stimmungsschwankungen, Temperamentsausbrüche, Reizbarkeit und Depressivität.

Welche falschen Ideen und Vorurteile begegnen Ihnen in Bezug auf die Störung?

»Du bist faul, streng dich an!«, »Das ist doch eine Kinderkrankheit!«, »Wenn du dich besser konzentrieren könntest, dann würdest du es auch schaffen!« – das ist so ein Potpourri an Sprüchen, die mir Klientinnen und Klienten berichtet haben.

Können soziale Medien dazu beitragen, Vorurteile abzubauen?

Sie sind Fluch und Segen zugleich. Sie bewirken, dass ein Thema wie ADHS in die Öffentlichkeit getragen und diskutiert wird. Ich finde es gut, dass diese Debatte geführt wird, weil viele Betroffene stigmatisiert werden. Aber es gibt eben auch Menschen, die sich in sozialen Netzwerken produzieren wollen, und das ist kontraproduktiv. Das hilft Stigmatisierten nicht.

Interview

Christian Mette ist Professor für Psychologie an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist ADHS bei Erwachsenen.

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