Ein seltsames Wesen namens Ossi

Ellen Händler und Uta Mitsching-Viertel begaben sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Ostidentität

Mehr als Ampelmännchen und Sandmann wären bewahrenswert gewesen.
Mehr als Ampelmännchen und Sandmann wären bewahrenswert gewesen.

Ja, der »Ossi« ist schon eine eigenartige Spezies: zänkisch und widerspenstig, mault und meckert beständig, ist trotzig, stetig beleidigt und belehrungsresistent, jammernd und hilfebedürftig, unangepasst, unzufrieden und undankbar trotz der »Segnungen« des Westens, die 1990 über ihn kamen. Am besten, man macht den Beitritt rückgängig, sollen die »Ossis« doch ihre DDR wieder aufbauen. Oder noch besser, um nicht der profitablen Schnäppchen verlustig zu gehen, die vor über drei Dezennien im Osten ergattert wurden: alle rebellischen Ostdeutschen aussiedeln, weit weg auf eine ferne Insel im Pazifik. Damit wieder Ruhe einkehrt in der Bundesrepublik.

Warum sind die Ostdeutschen so anders? In einer Diktatur aufgewachsen, 40 Jahre in Unmündigkeit gehalten, wäre doch Duckmäusertum und Untertanengeist zu erwarten gewesen. Wie konnte ein »Regime«, das »fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt« hat, wie der Westberliner Politologe Arnulf Baring dereinst meinte, solch unerbittliche Querulanten hervorbringen, durch die eine »Verwahrlosung«, »Proletarisierung« der Bundesrepublik drohe, wie derselbe 1991 halluzinierte.

Wurde anfangs das merkwürdige Verhalten der »Ossis« als »Ostalgie« abgetan, ist man seit einiger Zeit dazu übergegangen, das seltsame Wesen genauer zu studieren und zu analysieren, um es im gewünschten Sinne zu therapieren, zu heilen. Der ewige Ostdeutsche auf der Psychocouch. Gerade in jüngster Zeit sind viele Publikationen erschienen, die sich mit dessen Anderssein beschäftigen. Zumeist wird ein Mentalitätsunterschied vermutet, andersartiger Sozialisation geschuldet. Seriöse Wissenschaftler*innen und Publizist*innen, vielfach jüngere und zumeist ostdeutsch, begnügen sich nicht mit dem bequemen Verdikt, die Ostdeutschen seien per se demokratiefeindlich und demokratieuntauglich. Was indes nicht nur von West-»Experten« wie Baring, sondern auch einzelnen Vertretern dieser ostdeutschen »Ethnie« behauptet wurde und wird, vom einstigen Aktenverwalter Joachim Gauck bis zum regierungsamtlichen Ostbeauftragten Marco Wanderwitz.

Obwohl es nicht »die« Ostdeutschen wie auch nicht »die« Westdeutschen gibt, so ist doch eine sich zäh behauptende Ostidentität unverkennbar, Dissens zwischen Ost und West unbestreitbar. Was sich nicht erklären lässt mit konträren Sitten und Gebräuchen, kulinarischen Vorlieben oder sprachlichen Missverständnissen, wie etwa hinsichtlich der Animositäten zwischen Berlinern und Bayern. Es ist also tiefer zu loten. Vielleicht hat die Sturheit der Ostdeutschen doch etwas mit der gewesenen DDR zu tun? Mit dort trotz Unfreiheiten und eingeschränkter Rechte erlebten Freiheiten und Rechte? Mit dem Versuch eines alternativen Gesellschaftsmodells, Sozialismus genannt.

Vielleicht hat die Widerspenstigkeit der Ostdeutschen doch etwas mit der DDR zu tun?

Dies jedenfalls fragten sich Ellen Händler und Ute Mitsching-Viertel. Von 2017 bis 2022 haben sie 81 Männer und Frauen aus der DDR interviewt – über ihr Leben in zwei gesellschaftlichen Systemen, in der DDR und in der Bundesrepublik. Das Duo konzediert, dass als repräsentativ geltende Erhebungen eine größere Zahl von Probanden voraussetzt. Dennoch kann ihre Auswahl der Interviewten unterschiedlicher sozialer Herkunft, beruflicher Betätigung und weltanschaulicher Orientierung, von der LPG-Bäuerin und Grundschullehrerin über den Kulturwissenschaftler bis zum Generaldirektor, als durchaus aussagekräftig gelten. Händler/Mitsching-Viertel, beide Jahrgang 1948, können deren Aussagen zudem durch eigenes Erleben bestätigen.

Entgegen gern kolportierten Behauptungen betonen die Soziologin und Politologin: Die DDR will keiner wiederhaben. Aber auch: »Die biografischen Erfahrungen im Sozialismus bestimmen bis heute große Teile des Lebens und wirken auch nach außen.« Und wider die Unterstellung, die »Ossis« seien allesamt »diktaturgeschädigt«, erinnern sie: »Ostdeutsche haben mit der Wende gezeigt, dass und wie sie Demokratie können.«

Man lese und staune, in dem just von Händler/Mitsching-Viertel vorgelegten Band »Die DDR ist nachhal(l)tig«, mit dem sie quasi eine Trilogie vollenden, die in ihren vorherigen Bänden »Unerhörte Ostfrauen« und »Problemzone Ostmann?« dokumentierten Gespräche auswerten: Es gab Demokratieerfahrungen in der DDR, die Ostdeutsche heute vermissen! Und das betrifft nicht nur das kultivierte Eingabesystem, sondern vor allem betriebliche Mitbestimmung, die als direkter denn heute wahrgenommen wird. Als positiv herausgestellt wird von den Befragten zudem das Recht auf Arbeit. Massenarbeitslosigkeit war das erste prägende negative Erlebnis im »vereinigten« Deutschland. Von den 81 Männern und Frauen, die das Autorenduo interviewte, waren 60 nach 1990 nicht mehr in ihren erlernten Berufen tätig. Das im Westen belächelte »Arbeitskollektiv« einschließlich gemeinsamer Freizeitgestaltung ist in angenehmer Erinnerung. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, garantiert in der DDR-Verfassung, ist als eine Selbstverständlichkeit verinnerlicht, die mit der Realität in der Bundesrepublik kollidiert. Als diskriminierend wird der totale Eliteaustausch angeklagt.

Nicht verwunderlich ist die Würdigung der fortgeschritteneren Emanzipation der Frauen in der DDR, die ihnen dank vielfältiger staatlicher Förderung ermöglichte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von Kindergärten und Hortbetreuung bis hin zur Unterstützung alleinerziehender Mütter, sowie des gegenüber der Bundesrepublik progressiveren Familien- und Scheidungsrechts. Gleichwohl im Alltag patriarchalische Gebaren fortlebten. Das Gesundheits- und Bildungswesen im sogenannten realen Sozialismus wird als jenem der Bundesrepublik überlegen gelobt: keine Zwei-Klassen-Medizin sowie allgemeine und höhere Bildung unabhängig vom Geldbeutel. Ideologische Überfrachtung von Lerninhalten und der Wehrkundeunterricht freilich werden als Belästigung reflektiert.

Selbstverständlich werden DDR-Erfahrungen und Prägungen an Kinder und Enkel weitergegeben. Wen wundert’s? Gerade ob hernach gemachter Demütigungen und Ungleichbehandlung, materieller wie biografischer Enteignungen, niedrigerer Löhne und Renten, geringerer Karrierechancen, Ignoranz und Arroganz, wozu auch gehört, dass positive Errungenschaften der DDR im Vereinigungsprozess noch nicht einmal auf den Prüfstand gestellt wurden. »Die DDR war eine Gesellschaft, zu deren Alltag politische, wirtschaftliche und kulturelle Widersprüche gehörten. Sehr gute soziale Leistungen, niedrige Mieten, preiswerte Lebensmittel und mehr waren Errungenschaften, denen auf verschiedenen Gebieten Diskriminierung Oppositioneller, Inhaftierungen Ausreisewilliger und Zensur in der Medienlandschaft gegenüberstanden«, schreiben Händler/Mitsching-Viertel. »Bei Widerstand erneut einseitig und politisch festgemauert in die Ecke des ›Extremismus‹ und eines ›defizitären Demokraten‹ gestellt zu werden, erinnert ihn (den Ostdeutschen) an Dinge, die er überwunden glaubte und dennoch erneut vorfindet.«

Kurzum: eine Band, nein, eine Trilogie, der eine aufmerksame Leserschaft zu wünschen ist.

Ellen Händler/ Uta Mitsching-Viertel: Die DDR ist nachhal(l)tig. Eine Streitschrift zur Ostidentität. Ibidem Verlag, S,., br., 14,90 €.

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