- Kultur
- Spaß und Verantwortung
In Flammen starren
Über den Beginn der Kultur
Wir treffen unseren Freund Gianni vor der Bar Centrale am Milano Centrale. Er ist elegant gekleidet, wir erkennen ihn sofort, obwohl er am Milano Centrale in seinem natural habitat zu sein scheint. Er hat einen neuen Koffer, einen Eastpak: »Built to resist« ist der Slogan, der auf dem ausziehbaren Griff steht. Er rollt mehrmals durch den Regionalzug, er ist built to resist.
Draußen regnet es in Strömen, man hat das Gefühl, die Welt auf der einen Seite der automatischen Tür ist eine andere, eine dunklere, als die neonbeleuchtete Welt innen. Meine Ohren sind zu, weil wir durch die Berge fahren, ich verwechsle den Schwindel mit Vorfreude auf unser Reiseziel im sogenannten Val Poschiavo, das auf Deutsch das »Puschlav« genannt wird. Er ist natürlich beides. Die Uhr im Zug geht falsch, die Fahrgäste sind verwirrt, wir fühlen uns wie auf dem Weg in eine andere, mystische Dimension. Seit wir in Venedig das Vaporetto verpasst haben, lief alles schief. Am nächsten Tag wendet sich das Blatt.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
Unsere Freundin Charlotte kommt erst ein paar Tage später, zur Begrüßung kaufe ich einen Nusskuchen, wie er hier üblich ist – nur dass die Nüsse, passend zur Jahreszeit, durch Maronen ersetzt sind: Torta alla Castagna. Außerdem einen Steinpilz aus Baiser, passend zur Steinpilzzeit. Mit einer Badezimmerbürste putze ich später die echten Pilze, die zum Hirsch, Cervo, serviert werden.
Marco, der Koch nebenan, hat immer eine Meinung, was man zum Nachtisch bestellen soll: Lieber Cupeta statt Torta della Nonna zum Beispiel. Cupeta ist eine Spezialität aus der Region, mit saisonalen Zutaten hergestellt, aktuell: Maronen. Ich erinnere mich an meine ersten Besuche in der Schweiz, auf großen Schildern stand: Heissi Marroni.
Giannina erzählt: An der Grenze zu Italien gab es früher viele Cafés und Restaurants, denn es gab einen lebendigen Schmuggelverkehr. Offiziell anerkanntes Schmuggeln von Kaffee und Tabak. Ein schönes Wort im Italienischen: Contrabando. Neben der stillgelegten Schmuggelgrenze ist ein riesiges, verlassenes Hotel, das aussieht wie eine Burg. Es war nie wirklich in Betrieb, erzählt Giannina.
Ich denke daran, wie man am besten klaut: Mit einem Selbstverständnis, so groß, dass man fast glaubt, das Diebesgut gehörte einem schon. Dann einfach selbstbewusst an der Kasse vorbeitragen. Auf keinen Fall verstecken. Was man versteckt, wird sichtbar. Trick 17, sagt Gianni. Zur Art Basel schmuggle ich Kunstwerke auf dieselbe Art. These aren’t artworks, it’s just trashy sentimental gifts my friends made for other friends. Dreidimensionales, das sich als Zweidimensional tarnt. Mimikry.
Gianni holt sich Kisten von Marco nebenan und bespannt sie mit Textil, das er in Poschiavo kauft, aus traditionellem Leinenstoff. In Poschiavo steht der älteste Webstuhl der Schweiz, man kann sich einmieten, stundenweises Weben. Er lässt sich inspirieren von unserem Besuch in der Casa Console in Poschiavo, die eine erstaunliche und erstaunlich verstaubte Sammlung hat: Wir sehen Segantini, Spitzweg und Franz von Stuck, der seine Frau in einem Matador-Kostüm malt. Man sieht ihr ihren leichten Trotz bei gleichzeitigem Stolz an, in einem schwer dekorierten Kostüm stillstehen zu müssen.
Wir finden außerdem ein Buch von 1697: »Freiwillig aufgesprungener Granatapfel des Christlichen Samariters« von Eleonora Maria Rosalia Prinzessin von Liechtenstein und Herzogin von Troppau und Jägerndorf. Eine Heilpraktikerin teilt ihre Mittel gegen Kopfschmerzen mit. »Wenn einem der Kopfe sehr wehe tut: Nimm Rosen, Majoran, Spicanardi, Spica Balsam, jedes eine Hand voll. Lass in einer halben Wasser sieden, dass halben Theil einsiedet. Darnach tunkt man ein Tuch darein und lasst es wohl nass werden. Bünd es um den Kopff, es hülfft in derselben Stund.« Kopfschmerzen habe ich neuerdings ständig, irgendwas hat man ja immer. Ich denke an Silvia Federicis »Caliban und die Hexe« und die Verdrängung und Verfolgung von Wissen, medizinischem Wissen, das weiblich konnotiert ist.
Zu Hause machen wir ein Feuer. Ich lerne, die Pagoden- oder Stapeltechnik ist effektiver als die »Pyramide«. Ich lerne von meinem Freund Gianni: Feuer zu machen ist der Beginn der Architektur. Ich denke an die Technik, mit der das Holz gestapelt wird, als architektonischen Vorgang, Scheit auf Scheit. Gianni bezieht sich eher auf die Feuerstelle als Ort der Versammlung. Der Kamin: ein Ort, an dem das Plenum abgehalten wird. Schwierige Themen werden am Feuer besprochen. Man schaut dabei in die Flamme.
Wir machen ein Feuerritual und verbrennen Dinge, Eigenschaften, die wir loswerden wollen. Wenn uns nichts mehr zu sagen einfällt, schauen wir wie hypnotisiert in die züngelnden Flammen. Ihnen ist wenig hinzuzufügen. Den Bergen ebenso wenig. Beim Schreiben setze ich mich immer mit dem Rücken zum Fenster. In die Flamme schauend, sagt Gianni: Der Beginn der Kultur war da, wo man die Verletzen nicht mehr zurückließ, sondern sie pflegte. Mit diesen Worten geht er ins Bett und ich starre weiter in die Flamme.
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