Kandidaten im Aufwind

Was Shakespeare zum bundespolitischen Kandidatenschauspiel zu sagen hätte

Genosse Shakespeare: Kandidaten im Aufwind

Die Schwachstelle des demokratischen Gewerbes ist nicht zuletzt sein mangelhaftes Personal. Kaum hat man die letzten Wahlergebnisse unter Krämpfen verdaut, zeigen sich die Verlierer des vergangenen Votums abermals wahlkämpferisch, als wäre nichts passiert. Der freie Bürger fühlt sich bisweilen wie eine Geisel der Herrschenden und wird, wie zur Demütigung, auch noch zum Zeugen der Kandidatenkür gemacht.

Friedrich Merz, bald 70 Jahre alt und entsprechend auf dem von ihm gehuldigten freien Markt wohl kaum noch etwas wert, heißt der Kandidat der Unionsparteien. Eine Karikatur des Konservativen. Ein Rumpelstilzchen. Mit hochrotem Kopf erregt er sich, schreit seiner Zuschauerschar zu und hetzt wie ehedem.

Genosse Shakespeare

Wie es euch gefällt: Alle zwei Wochen schreibt Erik Zielke über große Tragödien, politisches Schmierentheater und die Narren aus Vergangenheit und Gegenwart. Inspiration findet er bei seinem Genossen aus Stratford-upon-Avon.


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Sein Gegenbild ist Robert Habeck, der sich in seiner aufdringlichen Kumpelhaftigkeit mit jedem kurzzuschließen weiß, der ihm ein Pöstchen sichert. Er ist die Wärmepumpe der bundesdeutschen Politik: Das Label »grün« mag täuschen, hier geht es um bloßen Aktionismus, gekleidet in große Worte, die die moralische Bedeutung einer jeder im Parlament zu behandelnden Drucksache behaupten.

Nur bei den Sozialdemokraten bleibt bis auf Weiteres unklar, ob sie einen Kandidaten aus dem rechten oder aus dem sehr rechten Flügel der Partei aufstellen sollen. Mit Walter Benjamins Sentenz »Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe« ist eigentlich schon alles zur Personalie Olaf Scholz gesagt. Allerdings hört die innerparteiliche Konkurrenz auf den Namen Boris Pistorius und hat den Begriff Kriegstauglichkeit wieder in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeführt. Wer so penetrant mit allen Säbeln rasselt, der will, so ist zu befürchten, irgendwann auch zustechen.

In einem sind die vier sich gleich: An Format fehlt es ihnen allen, kaum zu einem Gedanken ist einer dieser Herren fähig und falls doch, wird er ihn doch nur in eine technokratisch verarmte Sprache hüllen können und alsbald beerdigen. Die drei Kandidaten aus der Fortschrittskoalition werden ebenso wenig den Widerwillen gegen die herrschende Politik einzudämmen wissen wie die Sauerländer Bockwurst aus dem letzten Jahrtausend.

Was das alles mit dem Genossen Shakespeare zu tun hat, fragst du, liebe Leserin, lieber Leser. Ist es denn nicht so, dass wir uns mit Stratfords Sohn heute noch befassen, weil er mit seiner Literatur etwas Überzeitliches, etwas Allgemeinmenschliches zu Papier gebracht hat? Suchen wir in der Kunst nicht das Universelle? Und dürfen wir nicht glauben an ihre prophetische Kraft? Hat denn der junge Dänenprinz, wohnhaft in Helsingör, nicht sehr viel mit uns zu tun, jedenfalls nicht weniger als mit dem Menschen um 1600?

Und weil das so ist, finden wir also, was uns heute beschäftigt, bei Shakespeare niedergeschrieben. Blicken wir etwa in das 66. seiner Sonette, das sogenannte Hamlet-Sonett, vielleicht unter Zuhilfenahme der vortrefflichen Übertragung von Christa Schuenke, sehen wir das triste Kandidatenschauspiel unserer Tage schon vor Jahrhunderten beschrieben. Wir lesen von der Tugend, die zur Hure gemacht wird, von der Kunst, der der Apparat das Maul stopft, und vom Guten, das dem Schlechtesten die Stiefel leckt.

Und dann – mit dem Finger folgen wir den Worten, halten ein beim vierten Vers dieses formvollendeten Gedichts, mit Shakespeares Augen sehen wir ins Jahr 2024, begegnen Scholz und Pistorius, Merz und Habeck, erkennen sie jetzt ganz deutlich und betrachten mit dem Barden nun, jede Silbe kostend, »kleine Nullen sich im Aufwind blähn«.

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