Ein schmaler Grat für Die Linke

nd-Serie »Die Linke – vorwärts oder vorbei?«: Vorschläge für eine Neuaufstellung. Hat die Partei noch die Kraft dafür?

  • Christoph Spehr
  • Lesedauer: 7 Min.

Außen- und wirtschaftspolitisch konkurrenzfähig werden

Mit dem Widerstand gegen Hartz IV hatte Die Linke einst eine starke, innerhalb und außerhalb der Partei breit akzeptierte Kernbotschaft. Die fehlt ihr heute.
Mit dem Widerstand gegen Hartz IV hatte Die Linke einst eine starke, innerhalb und außerhalb der Partei breit akzeptierte Kernbotschaft. Die fehlt ihr heute.

Seit ihrer Gründung hat die Linkspartei bei Bundestagswahlen gut drei Millionen Stimmen von SPD und Grünen gewonnen. Die Hälfte davon hat sie inzwischen wieder verloren: in einem kleineren Schub 2013 (400 000 Stimmen) und in einem großen Schub 2021 (1,1 Millionen Stimmen). Aus Potenzialbefragungen wissen wir, warum Menschen, die sich vorstellen können, Die Linke zu wählen, sich dann doch für SPD oder Grüne entscheiden: wegen den Linke-Positionen in der Außenpolitik und der Wirtschaftspolitik. Diese gelten als unrealistisch, desinteressiert oder gänzlich unklar.

Die Partei hat in der Vergangenheit immer wieder demonstriert, dass sie gerade in der Außen- und Wirtschaftspolitik nicht über ihren ideologischen Schatten springen konnte: Die Abstimmung zum Evakuierungs-Mandat aus Kabul ist ein bekanntes Beispiel. Ihre derzeitigen politischen Angebote orientieren sich nicht an Zielen und an der Frage, wie diese Ziele zu erreichen wären, sondern an Reflexen: Waffen und Unternehmen sind böse, Verteidigung und Wirtschaftswachstum sind Unworte. Anstatt ernsthaft darum zu ringen, wie Frieden in einer kompliziert gewordenen Welt gesichert werden kann, wie mit den Widersprüchen zwischen Souveränität, Selbstverteidigung und Entspannung oder zwischen Beschäftigungssicherung, Weltmarktkonkurrenz und Marktversagen umzugehen wäre, gibt sich die Partei oft mit »Haltungen« zufrieden, die nichts lösen, sondern eher die Distanz zum Thema ausdrücken.

Die Partei will z.B. weder Rüstungsbetriebe noch Schlüsselunternehmen der Produktion verstaatlichen, weil sie sich dann zu Verteidigungspolitik und Innovationskonkurrenz in ein Verhältnis setzen müsste. Das Feld einer linken oder gar sozialistischen Politik kann sie so nicht besetzen.

Das Problem einer »Reflexlinken« ist: Sie ist in ständiger Gefahr, in Konflikten im falschen Lager zu stehen und Menschen zu verraten, mit denen sie eigentlich solidarisch sein müsste. Frieden um jeden Preis und ohne Militär heißt dann auch, die Ukraine preiszugeben. Rüstungsexporte prinzipiell auszuschließen, heißt am Beispiel von Israel dann auch: das Risiko eingehen, dass der Staat Israel in einem Konflikt mit denjenigen Staaten und Milizen der Region, die sein Existenzrecht nicht anerkennen, möglicherweise untergeht. Keine aktive Wirtschafts- und Strukturpolitik einzufordern heißt, sich nicht um die zukünftigen Arbeitsplätze der Beschäftigten zu kümmern und auf der Seite strukturkonservativer Interessen zu stehen. Mit solchen Positionen ist die Partei links der Mitte nicht konkurrenzfähig.

Mehr Biss im Verteilungskampf

In der Gründungsphase hatte die Linkspartei stark überproportionalen Zuspruch bei Wähler*innen-Gruppen mit niedrigeren Einkommen und prekärer Position auf dem Arbeitsmarkt. Dieser Zuspruch hat seit 2011/2012 kontinuierlich abgenommen. In ihrer Gründungsphase hatte die Partei mit den Forderungen nach Mindestlohn und Reform des Hartz-IV-Systems ein starkes Thema, das breite gesellschaftliche Resonanz hatte, umsetzbar war, auch von allen Praktiker*innen in der Partei geteilt wurde und auf eine unmittelbare Verbesserung der Lebenssituation vieler Menschen zielte. Dazu hat die Partei heute keine vergleichbare sozial- und arbeitsmarktpolitische Kernbotschaft.

Mögliche Kandidaten wären: das Klimageld; die einheitliche und voll versichernde Kranken- und Pflegeversicherung; staatlich geregelte Energiepreise mit Sozialtarif; Infrastruktur-Garantien (Kita, Bäcker, Bus und Bank) für Kommunen und Stadtteile; ein Entgeltgleichheitsgesetz, das die ungleiche Bewertung von »Hand, Herz, Hirn« ebenso abbaut wie die von Abschlusspapier und Berufserfahrung; das Prinzip »Für Kinder darf man nicht draufzahlen«; die Reform der Schuldenbremse. Dazu sind Arbeitsprozesse nötig, die auswählen, was ernsthaft umkämpft werden kann, weil es »in der Luft liegt«, und eine wirklich durchsetzungsorientierte Politik. Weder der Kampf ums letzte Krankenhaus noch die einigermaßen periphere Auseinandersetzung ums Grundeinkommen können eine zeitgemäße, offensive Kernbotschaft ersetzen, was Die Linke unmittelbar zugunsten der sozial Benachteiligten ändern würde und will.

Auseinandersetzung mit rechts

Weder wahltaktisch noch politisch darf sich die Partei darauf beschränken, einen Verteilungskampf in einem immer schmaler werdenden Feld links der Mitte zu führen. Wenn rechte Positionen kontinuierlich mehr Grund in der gesellschaftlichen Debatte gewinnen, muss Die Linke die Auseinandersetzung damit aufnehmen. Dabei hilft es nichts, vor dem Rechtsruck zu warnen und diese Positionen zu skandalisieren. Man muss sich von links in die gesellschaftliche Diskussion werfen.

Zentral ist dabei das Thema Migration. Die Auseinandersetzung mit rechts kann dabei nicht nur menschenrechtlich geführt werden. Sie erfordert eine linke Position auf der Linie: Eine Industriegesellschaft braucht Zuwanderung, auch solche aus sozialen und wirtschaftlichen Motiven. »Dichtmachen« wäre wirtschaftliche und gesellschaftliche Selbstabwicklung. Zuwanderung macht Probleme, braucht starke Integrationssysteme und wird die Gesellschaft langfristig verändern. Aber Zuwanderung ist eine zentrale Chance, demografische Probleme auf beiden Seiten zu lösen. Dazu ist allerdings notwendig, den Unterschied zwischen Asyl, Schutz und sozio-ökonomischer Zuwanderung ebenso zuzulassen wie die Erkenntnis, dass überforderte Kommunen, Konkurrenzen auf dem Wohnungsmarkt und Integrationskonflikte tatsächlich existieren.

Weitgehender Konsens in der Auswertung der Europawahl ist: Es funktioniert nicht, über alles nicht reden zu wollen, worüber sich die Gesellschaft gerade mit Leidenschaft streitet. Wenn die wahlentscheidenden Themen Friedenssicherung, soziale Sicherheit, Zuwanderung, Klimapolitik und Wirtschaftswachstum lauten, kann die Partei dem nicht ausweichen. Sich Wegducken ist keine Strategie im Kampf gegen rechts.

Die »Linksliberalismus«-Debatte

Sahra Wagenknecht hat die Debatte um den »Linksliberalismus« nicht erfunden; die US-Linke führt sie seit der Wahlniederlage von 2016. Sie ist auch notwendig: Der Anspruch auf fortschrittliche Gesellschaftsveränderung und der Anspruch auf soziale Gleichheit, auf Umverteilung von oben nach unten, sind nicht identisch. Beides zusammen konstituiert Die Linke als gesellschaftliche und politische Kraft, steht aber in Spannungen und Widersprüchen zueinander. Für linke Reformpolitik ist es von großer Bedeutung, ob beide Tendenzen und Zielgruppen sich berühren, überschneiden, zusammengehen – oder ob sie auseinanderstreben, auseinanderfallen, auseinandergetrieben werden.

Zu betonen, dass beides zusammengehört und zusammengehen kann, reicht nicht. Was die Linkspartei in der aktuellen gesellschaftlichen Umbruchphase versäumt hat, ist, Berechenbarkeit entlang von klaren Leitlinien zu entwickeln. Etwa: Gleichstellung von Lebensformen betrifft alle; Sprachpolitik hat eine schmale Grenze zur Besserwisserei; die untere Einkommenshälfte muss von den Kosten der Transformation freigestellt werden; Klimatransformation bemisst sich an der Wirksamkeit und nicht an der reinen Lehre oder symbolischen Fragen. Nur so kann der Zustand überwunden werden, dass zwischen dem Klagen über den »Lützerath-Sündenfall« und dem Klagen über das »Heizungsdiktat« niemand abschätzen kann, wie sich die Linkspartei wirklich verhalten würde, wenn sie real etwas zu sagen hätte.

Wenn die gesellschaftliche Debatte sich auf »Progressiver Liberalismus versus autoritärer Populismus« reduziert, wenn Politik als Kulturkampf zwischen Milieus inszeniert wird, verliert das linke Lager. Der entscheidende Punkt in der »Linksliberalismus«-Debatte ist: Diejenigen mit weniger Einkommen und unsicherer Arbeitsmarktposition sind nicht per se gegen Modernisierung und Transformation – sie haben aber eine berechtigte Skepsis. Sie verfügen nicht über die privaten oder machtmäßigen Ressourcen, äußere Umbrüche selbst abzufedern oder durch Lobbyarbeit sicherzustellen, dass ihre spezifischen Probleme und Anliegen dabei berücksichtigt werden.

Das ist der Ort, an dem Die Linke ein politisches Angebot machen muss, das sich vom rückwärtsgewandten Angebot des BSW ebenso abgrenzt wie von einem grünbewegten »Klima first, sozialer Ausgleich später«. Keine Maschinenstürmerei, sondern Kampf um die Nutzung der technologischen Veränderungen für die Beschäftigten und die Bevölkerung, und um ihren Einfluss auf die Gestaltung dieser Veränderungen. Kein Vertrauen darauf, dass die Veränderungen schon »auf lange Sicht zum Nutzen aller« wirken und »viele gute individuelle Möglichkeiten« bieten würden, sondern Beharren darauf, dass dies hier und jetzt kollektiv verhandelt werden muss. Einfordern von Institutionen und Arrangements, in denen diese Verhandlung verbindlich geführt werden kann. Setzen auf öffentliche Akteure, bei denen die Privilegien des Kapitaleigentums durch politisch-demokratische Einwirkung ausbalanciert und perspektivisch überwunden werden können.

All das, anders gesagt, was die fortschrittlichen Kräfte der Arbeiterbewegung immer getan haben, wenn schnelle Veränderungen von Produktions- und Lebensweise neue Möglichkeiten eröffnen, aber auf Kosten und Knochen von Beschäftigten und breiter Bevölkerung gehen, wenn sie nicht in die Bahnen von Interessenvertretung und gesellschaftlicher Rationalität gelenkt werden.

In der zurückliegenden Zeit hat die Linkspartei auf der Grundlage gearbeitet, dass die Wahrheit ihr selbst nicht zumutbar sei, nicht einmal ihren Führungsgremien. Damit muss Schluss sein. Wer sich nicht weiterentwickelt, stirbt. So viel Wahrheit muss jetzt sein.

In der nd-Serie »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« erschien zuletzt: »Überbringerin schlechter Nachrichten« von Friedrich Burschel (»nd.DerTag«, 24. 9. 2024).

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