Sind Ostdeutsche Marsmenschen?

Die DDR ist lange vorbei, aber »Der ewige Westen« strahlt nicht mehr so stark, glaubt Jürgen Große

Der Westen schaut sich am liebsten selbst an: als ewiges Versprechen US-amerikanischer Freiheit, Mobilität und Familie.
Der Westen schaut sich am liebsten selbst an: als ewiges Versprechen US-amerikanischer Freiheit, Mobilität und Familie.

Bevor die DDR zuammenklappte, wurde in der BRD der Begriff »Deutschland« kaum noch ernst genommen. Es gab ihn in den Sonntagsreden der CDU-Politiker und auf den Sportseiten der Zeitungen, denn da wurden die bundesdeutschen Nationalmannschaften stets »Deutschland« genannt, auch wenn sie gegen die der DDR antraten. Das war absurd und ein Hinweis auf schlummernde politische Ansprüche. Deshalb war die deutsch-deutsche Grenze auf den Landkarten im Erdkundeunterricht nur gestrichelt dargestellt. Doch in der späten alten BRD definierte man sich über Regionen, Ballungszentren und Großstädte. »Deutschland« schien eigentlich unbekannt zu sein. Der Begriff war von vorgestern und die DDR war Ausland.

Auf einmal sollte wieder alles Deutschland sein. Erst war die DDR pleite und dann mit dem Realsozialismus verschwunden. Helmut Kohl hatte sie letztlich dazu erfolgreich überredet. Die westdeutsche Linke war schwer beleidigt, weil die überwältigende Mehrheit der DDR-Bevölkerung keine Lust gehabt hatte, sich auf den sagenumwobenen »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu begeben oder gar einen »wahren Sozialismus« durchzusetzen. Stattdessen strahlte nun »Der ewige Westen«, wie der Philosoph Jürgen Große sein neues Buch genannt hat.

Eigentlich logisch, wenn der Osten verschwunden ist. Aber auch problematisch, denn der Westen setzt sich selbst als »normal null« und beurteilt alles von dieser Position aus: Der Osten, was er einmal war und was er heute ist, ist stets die Abweichung, nur eine Minderversion. Er wurde dem Westen angeschlossen, manche sagen auch kolonisiert, mit dem Argument: »Ihr wolltet das doch so haben, jetzt seht ihr mal, wie die Preise sind.«

Der »ewige Westen« gründet auf der Idee einer »liberalen Moderne«. Man könnte aber auch sagen: auf der Strahlkraft von Hollywood und Rock’n’Roll. Die ökonomischen Verwerfungen sind dem nachgeordnet. Deshalb hatte sich der Osten einer »nachholenden Modernisierung« zu unterziehen, so nennen es die (westlichen) Sozialwissenschaftler. Auch wenn dies nach 1989 Deindustrialisierung und damit einhergehende Verarmung und Arbeitslosigkeit bedeutete, so dass 1,7 Millionen Menschen vom Osten in den Westen zogen.

»Als modernetheoretische Deutungsinstanz fungiert eine imaginäre BRD, begriffen als ewiger Westen oder ›auf dem Weg dahin‹«, schreibt Große. Nur dort herrschten Wohlstand, Demokratie und Zufriedenheit, wird behauptet, auch wenn dort heute alles in den »polyvalenten Krisen«, wie es die Grünen gerne formulieren, den Bach runtergeht. Nichtsdestotrotz existiere der »ewige Westen« laut Große nur »dank einem Osten (einer Geschichte, einem Deutschland), von dem er sich ständig zu befreien hat«.

Erst durch den Anschluss von Ostdeutschland habe Westdeutschland ein Bewusstsein von sich selbst entwickelt, meint Große. Er nennt dies »gnostische Exzesse«: Ein Kampf des Lichts gegen das Dunkel, Übergänge sind ausgeschlossen. »Ostdeutsche sind Marsmenschen«, glaube man im Westen. Doch man kann sie nicht erkennen, weil sie aussehen, wie man selbst. Deshalb geht es hierbei in erster Linie um Kulturkämpfe. Große begreift auch die Rebellion der 68er als Auseinandersetzung um Diskurse und nicht als Ausdruck eines Sozialkonflikts. Es ist eine brutale Ironie der Geschichte, dass heutzutage die AfD die führende Rolle im Kulturkampf spielt, in dem sie die Idee der kulturellen Differenz stark macht: als Bedrohungsfantasie, um die Diskurse nach rechts in Richtung Autoritarismus zu verlagern.

Für Große ist der Westen allgemein von »Erfahrungsarmut und Meinungsreichtum, Weltflüchtigkeit und Selbstbezogenheit« geprägt. Seiner Ansicht nach erfahren die »gnostischen Exzesse« seit dem russischen Überfall auf die Ukraine eine Renaissance. Doch die Westbindung Deutschlands ist keine Metaphysik, sondern wurde politisch hergestellt: »Mit Gründung der Bundesrepublik war 1949 ein ganzes Land in den Westen geflohen, war deutscher Schuld(en)geschichte entkommen«, wie es Große formuliert, sozusagen auf die richtige Seite gewechselt.

Im Osten hingegen entwickelte sich laut Große »Staatsdistanz und Ideologieskepsis«, für ihn sind das die »Langzeitfolgen der Diktatur- und Umbruchserfahrungen« schon allein aus dem Grund, weil der Staat in der DDR übermächtig auftrat. Große hält die untergegangene DDR für eine »Schule des Konkreten« mit einer »Immunisierung gegen alles Luftige und Phrasenhafte«, das einem von offizieller Seite derart zusetzte, dass in diesem Land der Massenaufmärsche und Staatsverherrlichung das Private einen viel größeren Stellenwert einnahm als im Westen, wo das Privateigentum ja Staatsdoktrin ist. Man erwirbt es durch Leistungsbereitschaft (auch wenn man es erbt), weshalb eine geradezu calvinistische Arbeitsethik dominiert, die der DDR fremd war.

Aber was hat der Aufstieg der Rechten im Osten mit der DDR zu tun? Denn so wenig DDR wie heute war noch nie in der Ex-DDR. Man könnte meinen: Dem Westen geht es nicht gut. Vielleicht ist es wie im Zeichentrickfilm: Er ist schon über den Abgrund hinweg, läuft nur noch in der Luft und dann fällt er – tief.

Jürgen Große: Der ewige Westen. Wie ein Land nach sich selbst suchte und die alte Bundesrepublik fand. Das Neue Berlin, 240 S., br., 20 €.

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