- Kultur
- Realsozialismus
Fahne am Feiertag
Eine Erinnerung zum 75. Geburtstag der DDR
»Rote Fahnen sieht man besser« ist der einleuchtende Titel eines Dokumentarfilms von Theo Gallehr aus alter Zeit. Als ich Mitte der 80er Jahre das erste Mal in Ostberlin war, trat ich auf den Alexanderplatz und sah in dem Brunnen vor dem Centrum-Kaufhaus junge Leute stehen, die rote Fahnen schwenkten wie im Film. Sie hatten Lederjacken an und waren ungefähr mein Alter, 16 oder 17. Das ist also der Sozialismus, dachte ich. Brach hier der »rote Morgen der endgültigen Zeit« an, von dem Franz Josef Degenhardt gesungen hatte, als er Ende der 60er forderte: »Reiht euch ein in die neue Front«?
Ich fragte einen der Fahnenschwenker: »Was ist das für eine Aktion?« Er meinte: »Gar keine. Wir sind auf Klassenfahrt.« Sie kamen aus Stuttgart oder so, erzählte er. Und wo gibt’s die roten Fahnen? »In dem Kaufhaus da.« Ich ging rein und kaufte eine rote Fahne mit schwarzer Stange, die aussah wie ein Besenstiel mit gelber Spitze. »Die letzte in der Größe«, sagte man mir. Man sollte sie aus dem Fenster hängen. Ich schulterte sie wie bei einer Demo und lief durch die Gegend. Kaum war ich vom Alexanderplatz runter, hielt mich ein Volkspolizist an und kontrollierte meinen – westdeutschen – Personalausweis. Er forderte mich auf, die Fahne einzurollen. »Wieso denn? Wir sind doch hier im Sozialismus.« – »Fahnen werden nur an Feiertagen gezeigt«, war seine Ansage. Also rollte ich die Fahne ein.
Vor dem Brandenburger Tor entrollte ich sie wieder. Da patrouillierten Russen, meinte ich zu erkennen. Die sagten jedenfalls nichts. »Dank euch, ihr Sowjetsoldaten«, hätte ich mit Ernst Busch rufen können, »die Welt von Licht überflutet«. Wenn ich denn die Busch-Lieder gekannt hätte. Doch die hörte ich erst nach dem Mauerfall, da war der Kommunismus schon »abgelaufen wie altes Badewasser, als der Stöpsel gezogen wurde«, wie später Wolfgang Pohrt konstatieren sollte.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.