Appendix östliche Bundesländer

Zur Aussprache über den Jahresbericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung erschienen nur wenige Abgeordnete

Durchaus bodenständig, aber ohne Befugnisse: Carsten Schneider (SPD), Ostbeauftragter der Bundesregierung, der im Bundestag eine Bilanz von 34 Jahren deutscher Einheit zog.
Durchaus bodenständig, aber ohne Befugnisse: Carsten Schneider (SPD), Ostbeauftragter der Bundesregierung, der im Bundestag eine Bilanz von 34 Jahren deutscher Einheit zog.

Sie fand nicht zur Primetime statt, aber auch nicht kurz vor Mitternacht: Die 40-minütige Debatte des Bundestages zum kürzlich veröffentlichten Jahresbericht des Ostbeauftragten der Regierung begann am Donnerstagabend nach 19.30 Uhr. Sie lief weitgehend ohne Erregung, und am Ende ratterte der Vizepräsident des Parlaments, Wolfgang Kubicki (FDP) das Protokollarische herunter: Der Bericht – und ein umfangreicher Entschließungsantrag der Gruppe Die Linke – werden planmäßig an den Wirtschaftsausschuss des Bundestages überwiesen.

Der Linke-Antrag enthält eine gewaltige Liste von Maßnahmen, die aus Sicht der Gruppe notwendig wären, um tatsächliche Einheit, gemeint ist Chancengleichheit in Ost und West, herbeizuführen. Ganz oben auf der Liste: 14 Euro gesetzlicher Mindestlohn sofort. Derzeit liegt er bei 12,41 Euro, zum Jahreswechsel soll er nochmals um 41 Cent pro Stunde steigen.

Niedriglöhne, Rentengefälle, die weiter enormen Differenzen bei den Vermögen, aber auch die nach wie vor verschwindend geringe Repräsentanz der Ostdeutschen in den Spitzen von Wirtschaft, der Justiz, der Universitäten und der Verwaltung – all das sprach der Ostbeauftragte Carsten Schneider (SPD) unumwunden an, wie auch schon in den vergangenen Jahren. Und er betonte, der Report sei keine »Regierungspropaganda«, was sich schon an seinem Titel zeige. Der ist tatsächlich bereits zum zweiten Mal literarischer als die Berichte seiner Vorgänger, die nüchtern den »Stand der deutschen Einheit« beleuchteten. Der aktuelle heißt: »Ost und West. Frei, vereint und unvollkommen.«

Der Bericht enthält relativ wenige Wirtschaftsdaten, mehr Informationen zu Einkommen, Vermögen und Repräsentanz Ostdeutscher (»Elitenmonitor«) sowie Ergebnisse einer weiteren Umfrage zu Befindlichkeiten im ganzen Land (»Deutschlandmonitor«). Den größten Umfang hat der Abschnitt mit Reflexionen und anderen Textformaten von 20 Autorinnen und Autoren, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, unter ihnen mit Anne Hahn und Frank Willmann auch zwei nd-Autor*innen.

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Maßgeblich sind allerdings Erzählungen von Personen, die DDR-Geschichte und gesamtdeutsche Gegenwart so einordnen, wie es dem ideologischen Rahmen der bundesdeutschen Gesellschaft entspricht, in dem Ostdeutschland nach wie vor als eine Art Appendix gilt. Einer, der angeblich den Westen immer noch Geld kostet und dessen Restbewohner – nach 1990 wanderte teils jeder Vierte ab – zu einem erheblichen Teil Problembären sind. Diktaturgeschädigt und von der plötzlichen »Freiheit« geschockt, wie es der aktuelle Cheferklärer des Landesteils, Ilko-Sascha Kowalczuk ausdrückt.

Carsten Schneider betrachtet im Vergleich zu Kowalczuk und anderen die Geschichte nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und die Erfahrungen der Ostdeutschen in den letzten 35 Jahren differenziert, hört gern zu und ist kein Freund abschließender Urteile. Gleichwohl bediente seine Rede im Bundestag dann doch die gängigen Erzählungen von der brutalen DDR-Diktatur und dem Mut »der« Ostdeutschen, die diese »unter großer Gefahr« fortdemonstriert hätten.

Und Schneider wäre kein Staatsminister, wenn er nicht die Entwicklungen im Osten seit 1990 als »grandiose Erfolgsgeschichte« zusammenfasste, wie am Donnerstag geschehen. Seit zehn Jahren wachse die ostdeutsche Wirtschaft schneller als die westdeutsche, sagte er. Und: »In den Zukunftstechnologien entscheiden sich immer mehr internationale Großkonzerne für den Standort Ostdeutschland, weil hier die Bedingungen einfach stimmen – wir haben freie Flächen, gut ausgebildete Arbeitskräfte –, aber auch die Standortpolitik der Bundesregierung Früchte trägt.« Die ostdeutsche Wirtschaft stärke mittlerweile die gesamtdeutsche.

Kritische Töne kamen in der Aussprache durchaus auch von Rednern der Ampel-Parteien. Den ganz großen Hammer holte aber CDU-Mann Sepp Müller heraus. Der Bericht des Ostbeauftragten werde nicht in »Regierungshandeln« umgesetzt. Deshalb müsse der aktuelle der letzte sein. Die Posten des Ostbeauftragten und seiner Mitarbeiter könnten folglich gestrichen werden.

Müller erinnerte daran, dass in der laufenden Legislatur in Deutschland insgesamt 300 000 Industriearbeitsplätze »vernichtet« worden sein. Viele Insolvenzen von Zulieferern der Autoindustrie und anderer Branchen beträfen Ostdeutschland, so der aus Sachsen-Anhalt stammende Politiker. Angesichts dessen sei es schwer nachzuvollziehen, dass es im Bericht heißt, die Ampel mache »gute Industriepolitik«.

Die von Müller vorgeschlagene Medizin für den Standort dürfte indes so wirksam wie Homöopathie sein. Leistung, so der 35-Jährige, müsse wieder »belohnt« werden. Gemeint sind damit allerdings keine Entgelterhöhungen für Beschäftigte. »Schaffen Sie endlich das Bürgergeld ab«, forderte er stattdessen.

Interessanterweise war das Bündnis Sahra Wagenknecht, das sich auch als Stimme des Ostens inszeniert, mit keinem Abgeordneten bei der Aussprache zu Schneiders Bericht vertreten. Wagenknecht selbst ist in der BSW-Bundestagsgruppe die einzige Person mit ostdeutscher Biografie. Demgegenüber spann Leif-Erik Holm von der AfD einmal mehr die Erzählung weiter, seine Partei werde »die Wende« vollenden und Mauern zum Einsturz bringen, dieses Mal die »in den Köpfen«.

Sören Pellmann, Ko-Vorsitzender der Linken, sprach soziale Ungleichheiten wie die Entgeltlücke von 824 Euro pro Monat brutto bei Vollzeitjobs und den Mangel an demokratischer Repräsentanz der Ostdeutschen an. Er fasste im Schnelldurchlauf die Forderungen des Entschließungsantrags seiner Gruppe zusammen: »Anti-Inflations-Politik, die Lohneinheit bis 2025, Inflationsausgleich für die Rente und viel mehr Tarifbindung«. Die Löhne müssten dringend steigen, denn derzeit erhalte jeder Dritte in Ostdeutschland weniger als 14 Euro brutto pro Stunde. »Arbeiten im Osten muss sich lohnen und darf nicht bestraft werden«, forderte Pellmann.

Zudem brauche es mehr Investitionsanreize für »arbeitsplatzintensive Unternehmen«. Derzeit betrügen die Pro-Kopf-Investitionen »in Maschinen oder Produktionsanlagen im Schnitt gerade einmal 64 Prozent des Westniveaus«, monierte Pellmann. Von den 20 in Schneiders Bericht versprochenen Großprojekten laufe keines. Der gescheiterte Bau des Intel-Halbleiterwerks in Magdeburg sei nur die »Spitze des Eisbergs«.

Infolge der anhaltenden Abwanderung aus dem Osten, auch aufgrund fehlender Job-Perspektiven, verödeten »weiter ganze Landstriche«, beklagte Pellmann. Letzteres sorgt allerdings dafür, dass die von Schneider gelobten Flächen zur ungestörten Ansiedlung großer Unternehmen vorhanden sind. Aus Sicht der Regierung und mancher Firmen durchaus ein Standortvorteil.

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