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Ein reales revolutionäres Subjekt?
Hans-Günter Thien begab sich auf die Suche nach einer verschwundenen Klasse
Zu den Buchverlagen, die ihre Titel pflegen und nicht des Gewinns wegen vornehmlich immer neue Editionen auf den Markt werfen, gehört das Westfälische Dampfboot. Es offeriert derzeit Hans-Günter Thiens viel diskutierten Band »Die verlorene Klasse« in zweiter, erweiterter Auflage. Dass Thien, einst Professor an der Universität Münster, sich auf den marxschen Klassenbegriff beruft, versteht sich.
Der Name des Verlags geht auf die von 1845 bis 1848 erschienene Zeitschrift »Das Westphälische Dampfboot« zurück. »Dampfboot« war seinerzeit das Symbol für den aufstrebenden Industriekapitalismus, das Blatt berichtete über die ersten »Vereine für die arbeitenden Klassen« (wohlgemerkt im Plural). Marx hat das »Dampfboot« sorgsam gelesen. Dort erschien ein Kapitel der »Deutschen Ideologie«, auch »Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik« von Karl Marx und Friedrich Engels, eine scharfe Auseinandersetzung mit Bruno Bauer und dessen »Feldzug« gegen Ludwig Feuerbach.
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Dass es das traditionelle Proletariat nicht mehr gibt, ist eine Binsenweisheit. Wir befinden uns in einem Umbruch. Der Autor hat die durch objektive Prozesse bedingte Differenzierung und staatlich gewollte Individualisierung der lohnabhängigen Beschäftigten in der Bundesrepublik der 80er Jahre ausgiebig untersucht, und man staunt, wie aktuell diese Studien sind. Sympathisch daran, dass er auch erfahrungsbedingte Wertungen und Zweifel zu erkennen gibt.
Von Marx ausgehend konstatiert Thien: Im Begriff der Arbeiterklasse sind »alle Lohnarbeiter (Arbeiter und ›Angestellte‹) erfasst, die ihre Arbeitskraft gegen Geld in der Form von Kapital tauschen«, Abhängige, egal ob produktive oder kommerzielle Lohnarbeiter, die »dem Kapital direkt gegenüberstehen«. Also all jene, die im kapitalistischen Sinn Werte schaffen, gehören objektiv zur Arbeiterklasse, selbst dann, wenn sie gegen ihre Interessen eine rechte Partei wählen. Diese Definition bedeutet auch, vom alten Dogma, demzufolge die Masse der Lohnarbeiter quasi von Natur aus das reale revolutionäre Subjekt sei, Abschied zu nehmen.
Als Erich Fromm 1941 im Institut für Sozialforschung seine Studien über die gegenwärtigen Einstellungen der Arbeiter und Arbeiterinnen – ihr faktisches Klassenbewusstsein – vorlegte und zu dem Ergebnis kam, dass eine große Kohorte an sozialistischen Programmen nicht interessiert sei, sondern hassgeprägt einen »autoritären Charakter« an den Tag lege, zeigten sich die konventionellen Marxisten wie vor den Kopf geschlagen. Aber Fakt ist Fakt – das gilt es wahrzunehmen und die Gründe dafür zu erkennen. Es hat niemals, auch zu Marxens Zeiten nicht, eine in sich homogene Arbeiterklasse gegeben; andererseits drifteten damals und heute wieder Gruppen von Arbeiter*innen in den rechten oder faschistischen Diskurs ab. Dass »der« Arbeiterklasse per se eine »historische Mission« zukomme, war eine Illusion.
Es lohnt sich, auf das ergänzende Nachwort näher einzugehen. Thien nimmt zwei sozialwissenschaftliche Bestseller unter die Lupe: Oliver Nachtweys »Die Abstiegsgesellschaft« und Stephan Lessenichs »Neben uns die Sintflut«. Nachtwey konstatiert ganz richtig, dass und wie sich Klassenverhältnisse seit dem Ende des Fordismus in den 70er Jahren verändert haben. Vor allem die neoliberale Deregulierung hat wertträchtige Tätigkeiten vom sekundären Sektor der Produktion hin zu dem der Dienstleistungen verschoben, sodass wir es heute mit einer industriellen Dienstleistungsgesellschaft zu tun haben. Demzufolge wird von »neuen Klassenstrukturen« gesprochen, aber wodurch sie bestimmt sind, das bleibt Nachtwey schuldig. Schon der Begriff der Abstiegsgesellschaft ist schwammig, zumal Nachtwey ihn mit den Unwägbarkeiten einer sogenannten repressiven Moderne verknüpft. Doch was ist »regressiv« am Neoliberalismus? Handelt es sich nicht vielmehr um die bekannten Widersprüche kapitalistischer Entwicklung, fragt Thien. Die begrifflichen Eselsbrücken, die manche Sozialwissenschaftler ins Reich der Erkenntnis zu bauen versuchen, sind unübersichtlich und nicht verlässlich fundiert. »Statt einer wenigstens ansatzweise systematischen Klärung finden wir Impressionistisches«, schreibt Thien. Und das Bedenkliche daran: Die verschwommenen Ersatzbegriffe haben Eingang gefunden in die Sprache der Linken, weitgehend auch ihrer Partei Die Linke.
Wie in den Wirtschaftswissenschaften dominiert die Flucht in psychische Deutungsmuster. Die subjektive Zugehörigkeit zur Arbeiterschicht (!) habe nachgelassen, lesen wir; sie sei ersetzt worden durch das allgemeine Streben nach einem Mittelklasse(!)status. Doch wiederum bleibt unklar, um wen es sich bei dieser »Mitte« handelt – das wird nicht aufgefächert, und »die Mitte« erscheint wie ein Mantra, das die Gesellschaft zusammenhalten soll. Dieses Durcheinander ist nicht nur grob oberflächlich, es hilft auch der neoliberalen Ideologie, die wahren Ausbeutungsverhältnisse zu verbrämen und in die Köpfe der Lohnabhängigen zu trichtern.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Klassen definieren sich im Verhältnis von Kapital und Arbeit. Die Zugehörigkeit der Menschen zu dieser oder jener Klasse ergibt sich aus der Position, die sie in diesem Verhältnis einnehmen, wobei die Grenzen fließend sein können. Für eine Partei, die reale Verbesserungen der gesellschaftlichen Verhältnisse anstrebt, bleibt es unabdingbar, die veränderte Klassenzusammensetzung konkret zu erfassen. Das ist gewiss anspruchsvoll, zumal die Prozesse noch nicht abgeschlossen sind. Und wenn Die Linke, wie verkündet, »einen Neustart« versuchen will, muss sie die unterschiedliche Gebundenheit ans Kapital und die mitunter konträre Motivierung der Klassenangehörigen kennen.
Einerseits nähert sich die Lage der angestellten Lohnarbeiter jener der Produktionsarbeiter an. Aber so zu tun, als gäbe es keine produktiven Arbeiter mehr, keine hart körperlich Tätigen im Dienstleistungssektor, ja, das Wort Arbeiter zu meiden, offenbart eine weitgehende Entfremdung der linken Führungskräfte von der Basis. Andererseits gibt es eine zunehmende interne Differenzierung der Lohnabhängigen, wodurch sich unterschiedliche Gerechtigkeits- und Missachtungserfahrungen verfestigen. Drittens werden staatliche, kommunale und öffentliche Einrichtungen, etwa Bildungsstätten, Krankenhäuser, privatisiert. Das alles erhöht den ökonomischen Druck auf jene, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und bedarf konsequenter Analyse. Welche Kriterien der Zuordnung sind maßgeblich, wenn eine Partei Ansprechpartner oder Adressaten ihrer Kritik ausmachen will? Und Die Linke steht vor der Aufgabe, herauszuarbeiten, worin die kollektive Identität dieser Gruppierungen besteht; sie muss den Individuen die Gemeinsamkeiten bewusst machen.
Auf einen Nenner gebracht: Die Interessenlage der Lohnabhängigen etwa zwischen Qualifizierten und niedrig oder Unqualifizierten, zwischen Stammarbeitern, Teilzeitarbeitern und Arbeitslosen hat sich aufgespalten. Dies zunehmenden Ambivalenzen gilt es in den Handlungsoptionen zu beachten, wie Klaus Dörre in einem brillanten Essay dargelegt hat. Ob sich daraus ein neues Klassenprofil ergibt, ist die offene Frage. Hans-Günter Thien ist darin skeptisch. Er weist darauf hin, dass zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen von Lohnabhängigen Annäherungsprozesse stattgefunden haben und stattfinden. (Etienne Balibar diagnostizierte eine »Re-Proletarisierung der europäischen Bevölkerung«.) Er plädiert dafür, »die Frage einer möglichen Klassenbildung analytisch zumindest offenzuhalten«. »Aber ist das die neue Arbeiterklasse oder die Klasse der Lohnabhängigen? – Soweit würde ich nicht gehen, sind doch die nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen nicht verschwunden ...« Vielleicht wirken die Zeit und die künftige Entwicklungen katalytisch. Die Konsolidierung des früheren, gesellschaftlich wirksamen Proletariats hat auch ein Jahrhundert gedauert.
Hans-Günter Thien: Die verlorene Klasse. ArbeiterInnen in Deutschland. Westfälisches Dampfboot, 235 S., br., 25 €.
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