Für ein zweites Zimmerwald

Die kleine Buchmacherei hat ein fulminantes Buch über Ukraine-Krieg und Antimilitarismus veröffentlicht

Schon Muhammad Ali wusste: »Räumt mir ’ne Zelle doch und steckt mich ins Loch. Denn lieber Gefängnisbrot als in Vietnam und tot.«
Schon Muhammad Ali wusste: »Räumt mir ’ne Zelle doch und steckt mich ins Loch. Denn lieber Gefängnisbrot als in Vietnam und tot.«

Zu den größten Tragödien des 20. Jahrhunderts gehört bekanntlich das fatale Scheitern der europäischen Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Der Internationale nur noch in Form von Liedgut verpflichtet, reihten sich die europäischen Mehrheitssozialist*innen 1914 in die Reihen ihres jeweiligen Nationalimperialismus ein und ließen sich widerstandslos in Schützengräben abschlachten. Als Begründung wurde angeführt: Der rückständige russische Zarismus / das arrogante englische Empire / Preußens abscheulicher Militarismus stelle eine Bedrohung für die Zivilisation dar, weshalb man sich bei der Verteidigung der eigenen Nation für den Fortschritt engagieren müsse. Auf diese verheerende Fehleinschätzung folgten neun Millionen Tote, der Siegeszug des Faschismus und ein zweiter, noch fürchterlicherer Krieg.

Heute hat man den Eindruck, große Teile der deutschen Linken wollten dieses Debakel nachspielen – als tragische Farce. Während die einen sich Putins kriegskapitalistisches Russland schönreden, indem sie auf die lange Liste US-amerikanischer Staatsverbrechen verweisen, haben sich die anderen ein politisches Märchen zusammengedichtet, dem zufolge die Demokratie mithilfe von Nato, Bundeswehr und Rheinmetall gegen den Autoritarismus verteidigt werden müsse.

Vor allem die zweite Position treibt im »progressiven Lager« der deutschen Gesellschaft die bizarrsten Blüten. Grünen-Wähler*innen meinen, mit Rüstungsmilliarden den Feminismus zu stärken. Antideutsche, die es sich beim Springer-Konzern oder im Staatsapparat gemütlich gemacht haben, fordern bei jeder Gelegenheit die Einrichtung von Flugverbotszonen (es sei denn, eine solche Zone könnte dem Schutz von Israels Nachbarländern dienen). Und Vertreter*innen der sogenannten Progressiven Linken, einer Strömung in der Linkspartei, wollen unbedingt eine »tabulose« Debatte um den Aufbau einer europäischen Armee auf die Tagesordnung setzen.

Vor diesem Hintergrund muss man das Buch »Sterben und sterben lassen. Der Ukraine-Krieg als Klassenkonflikt«, das die kleine gewerkschaftslinke Gruppe Beau Séjour dieser Tage veröffentlicht hat, allen ans Herz legen, die den Verstand noch nicht verloren haben und dies auch weiterhin vermeiden möchten.

Schon der Name des Herausgeberkollektivs ist Programm: Er verweist auf die Schweizer Pension, in der 1915 die sogenannte Zimmerwalder Konferenz stattfand, ein internationales Treffen linker Kriegsgegner*innen. So heißt es im Vorwort von »Sterben und sterben lassen«: Wir richten uns »an alle Antimilitarist:innen, die gegenwärtig wohl leider ähnlich minoritär sind wie die sozialistischen Kriegsgegner, die sich im September 1915, als Ornithologen getarnt, in der Pension Beau Séjour im Schweizer Zimmerwald trafen und die angesichts ihrer Zwergenhaftigkeit darüber scherzten, dass ›es ein halbes Jahrhundert nach Gründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen‹«.

Die bissige Kritik der Beau-Séjour-Gruppe gilt sowohl dem »linken Bellizismus«, der die Armeen von Ukraine und Nato als »antiimperialistische Kampfeinheiten« imaginiert, als auch jeder Verharmlosung des »russischen Oligarchenkapitalismus«, der mit Vorliebe nationale Minderheiten im Artilleriefeuer verheizt. Wer sich hier auf eine der beiden Seiten schlägt, so die Herausgeber, hat schon verloren. Die Unterscheidung zwischen »guten und bösen Imperialismen« ist wieder einmal die große politische Katastrophe der Linken.

Gegen »linken Bellizismus« und die Verharmlosung Putins – das Buch »Sterben und sterben lassen« verteidigt die einzig denkbare internationalistische Position zum Krieg in der Ukraine.

Zur Erläuterung dieser These ist »Sterben und sterben lassen« in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Kapitel, das den Titel »Hinter den Frontlinien« trägt, kommen Kriegsgegner aus der Ukraine und Russland zu Wort. Die anarchistische Gruppe »Assembly« aus dem belagerten Charkiw berichtet, wie sie das Recht auf Desertion in ihrem Land zu verteidigen versucht, verlangt von westlichen Antimilitarist*innen aber auch, den innerrussischen Widerstand gegen Putins Krieg viel aktiver zu unterstützen, damit die Kriegsgegnerschaft nicht auf eine indirekte Parteinahme für das Putin-Regime hinausläuft. Die anarchosyndikalistische Gruppe KRAS aus Russland spricht darüber, wie die Eliten im postsowjetischen Raum den russischen und andere Nationalismen stark machen, um die soziale und ökonomische Ungleichheit zu verschleiern. Und die marxistisch-leninistische »Arbeiterfront« erinnert daran, dass auch in der ukrainischen Bevölkerung längst nicht alle vom Anliegen des Krieges überzeugt sind – vor allem Richtung Frontlinie nehme die Kriegsbegeisterung spürbar ab.

Das Beau-Séjour-Kollektiv verheimlicht in diesem Zusammenhang nicht, dass diese antinationalen Stimmen in ihren Gesellschaften marginalisiert sind. Doch ihre Frage bleibt trotzdem die entscheidende: Lassen sich soziale und demokratische Rechte im Schützengraben der Staatenkonkurrenz verteidigen, oder stärkt die nationale Mobilisierung unter Führung des Kapitals nicht zwangsläufig genau jenen Autoritarismus, den man doch angeblich besiegen will?

Im Kapitel »Wessen Krieg?« diskutieren deutsche und englischsprachige Autor*innen über die Möglichkeiten einer antimilitaristischen Bewegung. Der Historiker Axel Berger zeichnet nach, wie sich die Zimmerwalder Konferenz im Ersten Weltkrieg gegen die mehrheitssozialdemokratischen »Vaterlandsverteidiger« positionierte. Peter Nowak, Journalist aus Berlin, schreibt über Streiks und Sabotageaktionen, mit denen Arbeiter*innen in Italien, Belarus und Russland Waffenlieferungen zu verhindern suchten. Aaron Eckstein und Ruth Jackson von der Zeitschrift »Communaut« analysieren in einem wirklich lesenswerten Text, inwiefern der Krieg in der Ukraine gleichzeitig als russischer Angriff, als ukrainischer Bürgerkrieg und als geopolitische Konfrontation verstanden werden muss.

Ein letzter Aspekt schließlich – nämlich der geopolitische Konflikt – steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels, das den Titel »Weltkrieg und Weltmarkt« trägt. Hier ist unter anderem ein älterer Text des Historikers Rainer Zilkenat aus dem Jahr 2014 abgedruckt, in dem nachgezeichnet wird, wie deutsche Großmachtpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder einen Anspruch auf die Ukraine angemeldet hat. Aus den Reihen des »Communaut«-Magazins stammt ein Text über die Bedeutung von Pipeline-Projekten und Energieversorgung für den Ausbruch des Ukraine-Krieges. Und in einem nachgedruckten Interview des österreichischen »Mosaik«-Magazins erörtert Politikwissenschaftler Felix Jaitner das politisch-ökonomische System des Putin’schen Russland.

Nicht alle Beiträge des Sammelbands sind gleichermaßen überzeugend, und auch die konkrete Frage, wie sich eine antimilitaristische Bewegung in Anbetracht fehlenden politischen Bewusstseins überhaupt entwickeln kann, bleibt offen. Doch allein die Tatsache, dass sich hier Linke endlich offensiv gegen jede Parteinahme in der kapitalistischen Staatenkonkurrenz wenden, macht das Buch unverzichtbar. Die Grundaussage von »Sterben und sterben lassen« ist, dass es soziale Emanzipation nur gegen die beteiligten Kriegsakteure geben kann. Eine Position, die eigentlich selbstverständlich sein sollte.

Es sagt alles über unsere Zeit, dass man »Sterben und sterben lassen« als das Buch der Stunde bezeichnen muss. Ein linker Kleinstverlag hat einen Sammelband in einer niedrigen dreistelligen Auflage veröffentlicht, in dem jene Position stark gemacht wird, die eigentlich alle linke Parteien, Organisationen und Stiftungen vertreten müssten. Das Buch ist ein radikales Statement gegen jede nationale Mobilmachung und für einen antimilitaristischen Internationalismus, der seinen Namen verdient. Es gelte, den »Schleier des Geschwätzes von Freiheit, Nation und Aufrüstung« zu zerschneiden, schreiben die Herausgeber in ihrem Vorwort. Recht haben sie. Im Gemetzel der Schützengräben wird nichts verteidigt als der Zugriff der einen oder anderen Elite auf die Reichtümer eines Landes.

AK Beau Séjour: »Sterben und sterben lassen. Der Ukraine-Krieg als Klassenkonflikt«. Die Buchmacherei, 208 S., geb., 15 €.

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