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Doku »Die Allee«: Geschichten eines Lebens
»Die Allee« ist eine biografische Spurensuche Sven Boecks im Herzen Berlins
Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, auch eine Straße ist nie dieselbe. Wenn wir sie entlanggehen, dann ist sie immer gegenwärtig – doch die Erinnerung an die Vergangenheit tragen wir dabei mit uns.
Für den Filmemacher Sven Boeck ist es seine Allee, die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Namen trug. Für andere sind es andere Straßen, Knut Elstermann etwa schrieb ein Buch über die Winsstraße in Prenzlauer Berg, in der er aufgewachsen ist. Mich prägte Mitte der 80er Jahre, als ich nach Berlin kam, die Warschauer Straße, im Schatten des Glühlampenwerks Narva, mit den vielen Eckkneipen für die Feierabendzecher. Die Warschauer Straße führt hinauf zum Frankfurter Tor mit den beiden von Hermann Henselmann gebauten Türmen. Und schon sind wir wieder auf Sven Boecks Allee, die hier bald Frankfurter Allee heißt. Die Namen wechselten, von Stalinallee zu Karl-Marx- und Frankfurter Allee – gleich blieb sich die West-Ost-Achse vom Alexanderplatz bis nach Lichtenberg. Unter der Allee verläuft über eine lange Strecke auch die U5, 1930 eröffnet zur Anbindung des proletarischen Ostens ans Zentrum Berlins.
Sven Boeck hatte 1991 bereits einen Film über die Allee, ihre Bewohner und ihre Geschichte gedreht. Das war schon nach der Wende, viele der damaligen Bewohner leben heute nicht mehr. Wie Gabriele Mucchi, der italienische Maler und Kommunist, er starb 2002 im Alter von 103 Jahren. Ein Leben in drei Jahrhunderten! Über das, was nach der Wende passierte – die Enteignung des Ostens –, meinte er verwundert: »Dass keiner auf die Barrikaden ging!« Die Menschen in der DDR waren nun mal überaus friedlich, eben noch hatten sie mit Kerzen vor Kirchen gestanden und »Keine Gewalt!« gerufen – und jetzt sollten sie sich handgreiflich gegen das Unrecht wehren, das ihnen passierte?
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Sven Boeck erinnert sich auch an den November 1990. Als erste Maßnahme nach der Vereinigung räumte der rot-grüne Berliner Senat die besetzten Häuser in der Mainzer Straße. So viele Polizisten hatte er bis dahin noch nie auf einmal gesehen, und friedlich ging es dabei nun gar nicht mehr zu!
»Die Allee« ist vor allem eine biografische Spurensuche Boecks im Herzen Berlins. Kompromisslos persönlich im Gestus, verwebt er darin die eigene Kindheit und Jugend mit der Zeitgeschichte. Am Anfang steht die Erinnerung an eine warme Sommernacht 1981. Er hatte gerade die Schule beendet, das Abschlussfest fand hinter dem Haus für Elektrotechnik am Alexanderplatz statt, die Allee war mitten in der Nacht fast leer, und mit zwei Freunden ging er hier entlang bis zum Strausberger Platz. Sie sprachen und träumten: »Gemeinsam werden wir die Welt erobern!«
Eine Woche später wird er in die Schule bestellt, die eigentlich hinter ihm lag. Man hatte die Abschlusszeitung, die er initiiert hatte, für geradezu staatsfeindlich befunden. Die Euphorie war wie weggeblasen – und die beiden Mitschüler, mit denen er sich eben noch im großen Traum von der Zukunft verbunden gefühlt hatte, sah er nie wieder.
So schnell kann sich ein Grundgefühl ändern, aus dem heraus wir leben. Gerade noch Geborgenheit und Zuversicht, jetzt Bedrückung und Sorge. Die DDR-Führung war groß darin, Träume zu zerstören, die sie einmal selbst geteilt hatte. Wenn Boeck mit dem Fahrrad aus dem Wedding (dem alten Arbeiterbezirk West), wo er jetzt wohnt, die Allee entlangfährt, registriert er die Veränderungen: »Jede Gesellschaft nutzt die Stadt für ihre Zwecke.«
Der Alexanderplatz war zu DDR-Zeiten eher eine Wüste aus Beton. Als hier die Demonstration vom 4. November 1989 stattfand, war dies für die DDR gleichzeitig »der Moment größter Gemeinsamkeit und ihr Ende«. Die Geschichte lehrt uns Dialektik – und oft ist dies eine bittere Lektion. Boeck prononciert: »Totgeschlagen haben wir unseren Staat selbst, ausgeweidet haben ihn andere.«
Manchmal bleibt einem nichts anderes mehr zu tun, als still darauf zu warten, dass die in uns abgesunkenen Bilder von einst wieder auftauchen. Da ist etwa das »Haus des Kindes« am Strausberger Platz 19, das 1954 als erstes Kinderkaufhaus in ganz Deutschland eröffnet wurde. Was daran war Utopie, was Ideologie? Schwer zu sagen, immerhin konnte man hier Dinge kaufen, die es sonst selten gab: Matchboxautos etwa. Der Neoklassizismus von Hermann Henselmanns Stalinallee (»Zuckerbäckerstil«), so sagen jene, die in der Welt herumgekommen sind, findet sich nicht nur in Moskau, sondern auch in Washington. Es lag in der Zeit.
Viel Prominenz wohnte am Strausberger Platz, so bis zu ihrem Tod 1966 die Kinderbuchautorin Alex Wedding, die Frau des bereits Mitte der 50er Jahre gestorbenen Schriftstellers F. C. Weiskopf. Auch Franz Fühmann hatte hier eine Wohnung, die er allerdings kaum nutzte, er suchte bewusst die Randlage in Märkisch-Buchholz für sein Schreiben. Aber nicht nur an Prominente wurden die begehrten, weil geradezu luxuriös ausgestatteten Wohnungen vergeben, auch Sven Boecks Tante Lotte wohnte hier, eine einstige Trümmerfrau und Straßenbahnfahrerin. Soziale Entmischung ist auch hier erst ein Resultat der Nachwendezeit.
Das Pflaster der Stadt atmet unter unseren Schritten, so der Filmemacher, der anhand von Archivbildern zeigt, wie sehr sich »die Allee« mit den Jahrzehnten veränderte. Überbauung ist das eine, der Wechsel der Bewohner das andere. Die einen sind gestorben, die anderen weggezogen, und der kleine Rest, der von einst noch da ist, geht längst am Rollator.
Auch Boecks Dramaturgin wohnt hier, er besucht sie in ihrer Wohnung. Natürlich geht es dabei um Filme – um die beiden Kinos auf der Allee, das »International« und das »Kosmos«. Das »Kosmos« war legendär. Heute ist es kein Kino mehr, man kann es für Events mieten. Hier fand 1987, wie jedes Jahr, das Festival des sowjetischen Films statt – aber diesmal im Zeichen der Perestroika. Askoldows »Die Kommissarin« von 1967 (der sofort verboten worden war) lief jetzt hier oder Elem Klimos »Geh und sieh« von 1985 über eine Kindheit im Partisanenkampf gegen die deutschen Aggressoren im Zweiten Weltkrieg. Das Fazit: Krieg tötet auch die Seele derer, die ihn überleben. Der SED passten die nun hier gezeigten Filme nicht in ihr ideologisches Raster. Die Perestroika-Begeisterten aber ließen sie aufatmen: Endlich hören die Lügen des Stalinismus auf!
Boeck nähert sich bei seiner filmischen Wanderung, die auch eine Zeitreise ist, dem Bahnhof Lichtenberg, der zu DDR-Zeiten viel wichtiger war als heute. Hier begann auch die Straße der Befreiung, einst Reichsstraße 1, heute heißt sie Alt-Friedrichsfelde, über die die Rote Armee nach Berlin kam. Der Antifaschismus habe als »gesellschaftlicher Kleber« schließlich nicht mehr funktioniert, die DDR-Gesellschaft zerfiel, hören wir im Film.
Gleicher Ort, aber immer andere Zeiten. Und vieles, was gewogen und für leicht befunden wurde, verschwand. Aber wohl auch zu viel von dem, was Gewicht hatte, doch heute unerwünscht scheint. Was liegt unter dem Asphalt der Allee an voreilig begrabener Zukunft verborgen? – um einen Gedanken von Heiner Müller über die voreilige »Entsorgung« von DDR-Geschichte aufzugreifen.
Ans Ende seines sehenswerten, auf stille Weise poetischen Films stellt Boeck das Lied von Gustav Mahler: »Ich bin der Welt abhanden gekommen«. Es scheint der Lauf der Dinge zu sein. Doch dass es kaum jemand als Verlust empfindet, der Triumph gedächtnisloser Gegenwart vollständig zu sein scheint, das ähnelt wahrlich jener »bleiernen Zeit«, die bereits am Ende der DDR so bedrückend war. Wie sagte Goethe zu Eckermann: »Die Zeit ist ein Tyrann«, ebenso blindwütig wie zerstörerisch, immer schon.
»Die Allee«, Deutschland 2024. Regie und Buch: Sven Boeck. 94 Min. https://www.alleefilm.de
Die Premiere findet im Rahmen eines nd.Filmclub-special am 23.10. im Kino »Toni« statt, mit Paul Werner Wagner, Dr. Thomas Flierl, Sven Boeck und Klaus Schmutzer.
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