Äthiopien: Zuflucht im »China-Camp«

Die Konflikte im Vielvölkerstaat Äthiopien sorgen für Vertreibung und Hunger von Millionen

  • Bettina Rühl, Addis Abeba
  • Lesedauer: 7 Min.
Vertriebene im sogenannten China-Camp, einer ehemaligen Fabrikhalle in der äthiopischen Stadt Debre Birhan. Über 20 000 Vertriebene leben im und in Zeltstädten um das Camp.
Vertriebene im sogenannten China-Camp, einer ehemaligen Fabrikhalle in der äthiopischen Stadt Debre Birhan. Über 20 000 Vertriebene leben im und in Zeltstädten um das Camp.

In der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba steht ein Dutzend Kinder singend rund um einen großen Geburtstagskuchen, der bunte Zuckerguss lässt ahnen, dass die Torte ziemlich süß ist. Hinter der Gruppe hängt eine bunte Girlande mit den Worten »Happy Birthday«. Als das Lied vorbei ist, teilen 65 Menschen den bunten Kuchen unter sich auf: Kinder, Frauen und Männer. Alle sind vor ethnischer Gewalt nach Addis Abeba geflohen. Seit rund zwei Jahren leben die Vertriebenen dicht gedrängt und von hohen Mauern geschützt in einem Einfamilienhaus zusammen, das eine Wohltäterin für sie angemietet hat – die Frau, die heute Geburtstag hat, aber selbst gar nicht anwesend ist.

Unter den Feiernden ist Kuleinau Abbire, ein Mann Mitte 50. Der Familienvater scheint immer noch nicht so ganz fassen zu können, was ihm und den Seinen vor gut zwei Jahren passiert ist: »Plötzlich standen die Nachbarn vor unserem Haus und sagten, dass wir nicht bleiben könnten, weil wir Amhara sind. Und die Region, in der wir lebten, sei das Gebiet der Oromo.«

Das ostafrikanische Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat, die über 120 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner gehören mehr als 80 Ethnien an. Die äthiopischen Bundesstaaten sind ethnisch definiert, doch nirgendwo ist die jeweilige Mehrheitsgruppe unter sich. Seit einigen Jahren nehmen die Spannungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen in mehreren Landesteilen zu. Das hat auch mit der Machtpolitik von Ministerpräsident Abiy Ahmed zu tun, der die Regierungsgeschäfte seit 2018 führt. Abiy will die Macht in dem Vielvölkerstaat stärker zentralisieren: in seiner Hand, in der Hauptstadt Addis Abeba. Und er schürt die Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen Gruppen, spielt sie gegeneinander aus, um seine Macht zu festigen.

Kuleinau erzählt, dass seine Vorfahren sich schon vor langer Zeit in Welega angesiedelt hätten, dem Ort in Oromia, aus dem sie nun fliehen mussten. Dort hätten sie erfolgreich als Bauern gelebt, so wie er selbst und die älteren seiner Kinder. Das friedliche Zusammenleben habe ab 2020 erste Risse bekommen; die Nachbarn hätten begonnen, gegen seine und andere Amhara-Familien Stimmung zu machen. »Man fühlt sich sehr einsam, wenn man plötzlich gesagt bekommt, dass man dort nicht hingehört, wo man zu Hause ist«, sagt Kuleinau bedrückt.

2022 sei dann geschehen, was seine ganze Familie in die Flucht trieb: Unbekannte Täter hätten die sieben Kinder seiner Schwester getötet. »Sie waren im Haus, tranken zusammen Kaffee«, erzählt Kuleinau. Als sie einen Schuss fallen hörten, seien sie nach draußen gegangen, um nachzuschauen, was passiert ist. »Sie wurden alle niedergeschossen.« Dabei seien sie noch jung gewesen und allesamt Zivilisten. »Den Jüngsten trug meine Schwester noch auf dem Arm. Die Angreifer hatten kein Mitleid, töteten alle.« Nur seine Schwester sei lebend davongekommen, allerdings mit einer Schussverletzung im linken Bein.

Kuleinau vermutet, dass die Angreifer zur Miliz OLA gehören, der »Oromo Liberation Army«. Deren Ziel ist die Gründung eines unabhängigen Staates für das Volk der Oromo, das ihrer Ansicht nach in Äthiopien unterdrückt wird. Dafür kämpfen die OLA und ihr politischer Flügel OLF seit Jahrzehnten. Seit 2020 konnten sie ihre Angriffe deutlich ausweiten, weil die äthiopische Armee durch den Krieg in der Region Tigray gebunden war. Dort kämpften die äthiopischen Streitkräfte an der Seite von Amhara-Milizen und eritreischen Soldaten gegen die Regionalregierung von Tigray und deren Armee. Beide Seiten verübten schwere Kriegsverbrechen, Abiy nutzte den Hunger als Waffe. Durch den Krieg, der zwei Jahre dauerte, starben nach Schätzungen mindestens 600 000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten.

Obwohl die Kriegsgegner seit November 2022 nicht mehr kämpfen, kommt Äthiopien nicht zur Ruhe. Abiys Regierung sieht sich nun in Oromia und Amhara mit Aufständen konfrontiert. Sie sind nicht zuletzt eine Folge des verheerenden Krieges in Tigray: Die dortigen Konflikte griffen auf das benachbarte Amhara über und sind dort bis heute ungelöst. Unter anderem geht es um Gebietsstreitigkeiten und um die Rolle der regionalen Armee.

Im Kampf gegen die unterschiedlichen Milizen geht die äthiopische Armee laut internationalen Menschenrechtsorganisationen skrupellos vor. Amnesty International beschuldigt die äthiopischen Streitkräfte »willkürlicher Massenverhaftungen«. Und Human Rights Watch wirft der Armee in einem Bericht von Anfang Juli vor, medizinisches Personal und die medizinische Infrastruktur gezielt anzugreifen. Bei den dokumentierten Vorfällen handele es sich um Kriegsverbrechen. Außerdem kritisieren Menschenrechtsorganisationen, dass die äthiopische Regierung Vertriebene zur Rückkehr in ihre Heimatregion zwinge, auch wenn die Vertriebenen sich dort nicht sicher fühlen.

Mohamed Abdullahi schlängelt sich geübt zwischen Bastmatten, die auf dem Boden liegen, und Stapeln aus Decken und anderen Habseligkeiten hindurch. Der Lärm von Hunderten Stimmen scheint ihn nicht zu stören, er hat sich vermutlich daran gewöhnt. Der 65-jährige Mohamed – gelb-schwarz kariertes Jackett, weißer Turban, gestutzter Bart – lebt seit zwei Jahren mit Hunderten anderen Vertriebenen in einer aufgegebenen Fabrikhalle, die alle nur das »China-Camp« nennen, in Debre Birhan, einer Industriestadt gut 100 Kilometer von Addis Abeba entfernt. Um das »China-Camp« herum sind etliche provisorische Zeltstädte gewachsen. Nach Angaben von Hilfsorganisationen leben hier 22 000 Vertriebene. Im Februar waren es noch 30 000.

Mohamed Abdullahi ist vor der Gewalt in Oromia nach Debre Birhan geflohen.
Mohamed Abdullahi ist vor der Gewalt in Oromia nach Debre Birhan geflohen.

Mohamed bleibt vor einer bunten Matte stehen: Hier wohnt er mit seiner Familie. So eng und laut das China-Camp auch ist, möchte Mohamed auf keinen Fall hier weg. Oder jedenfalls nicht nach Oromia. Aber er hat Angst, dass er dorthin zurückkehren muss. Im Februar hätten Regierungsvertreter damit begonnen, Menschen aus ihren Zelten zu holen, in Busse zu setzen und nach Oromia zu bringen, erzählt Mohamed. »Ich fürchte um unser Leben, wenn wir dorthin zurückmüssen«, sagt der alte Mann. Vor ihrer Flucht seien Bewaffnete – vermutlich von der Oromo-Miliz – in ihr Dorf gekommen und hätten Menschen willkürlich erschossen. Eins seiner Kinder – eine Tochter – und seine Schwester seien getötet worden. In den Monaten davor hatten er und seine Nachbarn die Regionalregierung von Oromia um Schutz gebeten, aber ohne Erfolg. Wer solle sie schützen, wenn sie jetzt dorthin zurückmüssten?

Angst hätten sie nicht nur vor Schusswaffen oder Macheten, sondern auch vor Hunger, sagt Shause Mohamed, der dem Gespräch bis jetzt zugehört hat. Bis zu seiner Flucht war Shause Händler in dem Ort Welega in Oromia, die übrigen Familienmitglieder bestellten ihre Felder. »Wegen des Konflikts und der ständigen Bedrohung konnte ich nichts mehr machen, noch nicht einmal Geld verdienen, um für mich selbst zu sorgen«, beklagt Shause. »Und dann wurde mein Bruder auch noch vor meinem Haus getötet.« Daraufhin habe sich die Familie kaum noch aus dem Haus gewagt, auch nicht auf die Felder. »Wir hatten kein Einkommen mehr, wir haben gehungert – auch deshalb sind wir geflohen«, erklärt Shause.

Aufgrund der vielen Konflikte sind nach UN-Angaben landesweit 4,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Zahl jener, die auf Unterstützung durch Hilfsorganisationen angewiesen sind, ist noch viel höher: Es sind 21,4 Millionen Menschen, bei einer Bevölkerung von gut 130 Millionen. 15,8 Millionen davon brauchen dringend Lebensmittel, um überleben zu können. Doch für die Helfenden wird es immer gefährlicher, die Menschen zu erreichen. »Hilfskonvois werden regelmäßig angegriffen und Hilfsgüter geplündert«, beklagt Paul Handley, Leiter des UN-Büros für Humanitäre Angelegenheiten, kurz UNOCHA, in Addis Abeba.

Zur politischen Gewalt komme eine drastische Zunahme der Kriminalität. Zu Beginn des Jahres habe die größte Gefahr für humanitäre Helfer vor allem darin bestanden, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, sagt Handley. »Inzwischen stellen wir fest, dass kriminelle Banden gezielt humanitäre Helfer ins Visier nehmen und zum Beispiel entführen.« Allein in den ersten Monaten dieses Jahres seien zehn UN-Mitarbeitende entführt und neun humanitäre Helfer getötet wurden, davon sieben allein in der Region Amhara. In immer mehr Regionen sei die staatliche Ordnung praktisch zusammengebrochen, so Handley. Bewohner und Helfende werden Opfer krimineller Banden, die Menschen entführen, um Lösegeld erpressen zu können. Fahrten mit dem Auto gelten vielerorts längst als zu gefährlich.

Die Teams der Vereinten Nationen und von Hilfsorganisationen versuchen, durch lange Verhandlungen im Vorfeld Zugang zu den Bedürftigen zu bekommen. Das aber kostet Zeit und Energie, die anderswo fehlen. Das größte Problem bei der Versorgung der Bedürftigen seien aber nicht diese Gefahren, sondern der Mangel an Geld, sagt Handley. Um in Äthiopien wenigstens diejenigen unterstützen zu können, die am meisten in Not sind, bräuchten die Vereinten Nationen für das laufende Jahr geschätzte 3,2 Milliarden US-Dollar. Bekommen haben sie davon nach eigenen Angaben bisher nur 20 Prozent.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -