Polleschs »Manzini-Studien«: Der Knacks, das Drama, der Terror

Theater mit Wiederholungszwang: René Polleschs Zürcher Inszenierung »Manzini-Studien« steht jetzt auf dem Spielplan der Berliner Volksbühne

Nur nicht handscheu werden: Wuttke, Tietjen, Angerer im Schwadroniermodus
Nur nicht handscheu werden: Wuttke, Tietjen, Angerer im Schwadroniermodus

Derzeit betreiben, solange das noch möglich ist, die Jüngerinnen und Jünger des Diskurstheatermessias sowie jene, die irgendwann einmal behaupten wollen, selbst leibhaftig dabei gewesen zu sein, die letzten angewandten Pollesch-Wissenschaften, bis man das Thema den Kulturhistorikern und der eigenen schon jetzt einsetzenden Nostalgie überlässt.

Vielerorts kann man Inszenierungen des Anfang des Jahres verstorbenen Autor-Regisseurs und Volksbühnen-Intendanten René Pollesch nicht mehr sehen. Auf den Spielplänen des Staatsschauspiels Stuttgart wie des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg und des Wiener Burgtheaters sucht man sie vergebens.

Auch das Deutsche Theater Berlin, das jede substanzielle Arbeit im Repertoire dringend gebrauchen könnte, hat die Pollesch-Abende vom Spielplan genommen und auch »Liebe einfach außerirdisch« nach Zürich ans dortige Schauspielhaus zur Übernahme geschickt. Von dort hat man freimütig die 2018er Inszenierung »Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)« nach Berlin entlassen, wo sie seit letzter Woche an der Volksbühne gegeben wird.

Allein die Stücktitel dieses Autors haben Kultstatus. Die Pollesch-Theatrologen der Zukunft werden sich sicher ihren Reim auf die verrätselten Namen (zum Teil ohne ersichtlichen Zusammenhang zum Bühnengeschehen) zu machen und sie zu kategorisieren wissen. Die mit den überlangen, das Formats jedes Ankündigungszettels sprengenden Titeln (»Wann kann ich endlich in einen Supermarkt gehn und kaufen was ich brauche allein mit meinem guten Aussehen?«), die mit den popkulturellen Verweisen (»Schau mir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang«) und die mit den wohltuenden Imperativen (»Schmeiß dein Ego weg!«).

Zuletzt hatte Pollesch seine Inszenierungen oft um die Kunst und das Theater selbst kreisen lassen. Deren Titel entlieh er manchmal dem alten Brecht: »Passing. It’s so easy, was schwer zu machen ist«, »Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer«, »Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen« und »Herr Puntila und das Riesending in Mitte«.

In diese Reihe fügt sich auch »Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis«, das auf Brechts Lehrstück »Die Maßnahme« verweist und dem der merkwürdige Zusatz »Manzini-Studien« beigefügt ist. Wohl eine Anspielung auf das Berlin-Charlottenburger Café Restaurant Manzini (ein Ort mit Preisen im weit gehobenen Segment).

Die drei Pollesch-Routiniers Kathrin Angerer, Marie Rosa Tietjen und Martin Wuttke meistern die 100 Minuten im Gedankentaumel. Die glanzvollen Kostüme (Sabin Fleck) werden bestimmt so oft wie die Bärte und Perücken gewechselt. Das Zürcher Bühnenbild hat Barbara Steiner für die Volksbühne aufs rechte Maß gebracht.

Zunächst stehen die drei Darsteller vor einem schwarz-weiß gestreiften Vorhang und reden sich emphatisch um Kopf und Kragen, ehe sich der Lappen hebt und wir auf eine übergroße Affenhand blicken – King Kong lässt grüßen! –, die sich hebt und senkt, die Spieler aufnimmt und fallen lässt. Das ist der verspielte Faktor, der die Pollesch-Abende ausmacht, aber in dieser Inszenierung etwas kurz kommt, und der die Gedankenfülle zu bändigen versteht.

Die psychoanalytische Sitzung klassisch freudianischer Prägung dauert 50 Minuten, nicht länger und nicht kürzer. Pollesch lässt seine Spieler mit Lacan dieses Setting kritisieren: Warum soll sich der Analysand 40 Minuten in kreisenden Denkbewegungen Mal um Mal in Wiederholungen üben, nur um dann, zehn Minuten vor Schluss, zum Eigentlichen durchzudringen? Sollte es nicht möglich sein, die 40 unnötigen Minuten zu überspringen?

Was der Lacanianer in der psychoanalytischen Kur probiert, das spielen die Darsteller für das Theater, für das Leben selbst durch – und scheitern. Bei einem fünf-, sechs-, viellleicht acht- oder auch 24-stündigen »Sommernachtstraum« – sollte es da nicht möglich sein, kurz vor Schluss einzusteigen? Und kann es uns nicht gelingen, der Ermangelung einer Probe zum Trotz, das eigene Leben ganz richtig zu beschließen?

Es nützt nichts, dem Wiederholungszwang entkommt hier niemand. Und so drehen sich hier alle bühnenwirksam im Kreis, nehmen dem Gegenüber die Worte ab und machen sie sich zu eigen: »Alles Leben ist ein Prozess des Niedergangs«, klingt es da dutzendfach in den Zuschauersaal hinein. Vom »Sommernachtstraum« gelangt man zur Traumdeutung und von da gleich wieder zurück. Dem Knacks, dem Drama, dem Terror will man auf die Spur kommen und konstatiert letztlich doch nur den eigenen Sprung in der Schüssel.

Wo es mit Freud nicht weitergeht, da zog Pollesch mit seinen Spielern weiter zu Donna Haraway und anderen. Und wo die Theorie als großes Fragezeichen auf der Bühne Platz genommen hat, wenden sich die Theatermacher ihrem ureigenen Thema zu: Wer spielt (und repräsentiert) hier wen? Wie bildet man Realität ab? Und wir kommen wir raus aus der »Sommernachts«-Dramaturgie?

Ein wenig melancholisch verlässt man nach diesem Abend die Volksbühne. Nicht, weil hier das Leben einmal mehr als Vorgang des Scheiterns präsentiert wurde. Nein, weil diese Art der Theaterkunst, für die Pollesch stand und steht, so gegenwartsgesättigt ist. Die Diskurse der jüngsten Vergangenheit leben kurz noch einmal auf. Aber was wir auf der Bühne gesehen haben, ist schon jetzt museal. Noch ein paar Vorstellungen und es ist ganz vorbei damit.

Nächste Vorstellungen 19., 27.11. und 25.12.
www.volksbuehne.berlin

Es nützt nichts, dem Wiederholungszwang entkommt hier niemand.

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