- Kultur
- Kannibalismus
Kinder sind nicht unschuldig
Kannibalische Tendenzen unter Kleinkindern
Mein erster Freund hieß Hugo. Hugo ist zwei Monate, drei Tage und fünf Stunden vor mir geboren worden, sein Körper war aber dennoch viel kleiner und zarter als meiner. Als Säuglinge wurden wir nebeneinander auf eine Wolldecke gelegt und von den Erwachsenen buchstäblich von oben herab dabei beobachtet, wie wir sabbernd und gurgelnd versuchten, miteinander zu kommunizieren – oder auch einfach selig nebeneinander einschliefen.
Hugo war der erste andere Säugling, den ich, zumindest nach den ersten Tagen auf der Entbindungsstation, erlebte, das erste andere Wesen in meinem Alter, mit dem ich in Kontakt kam. Er konnte sich genauso wenig artikulieren wie ich, aber, passend zu seinem etwas früheren Geburtsdatum, konnte er sich zwei Monate, zwei Tage und sieben Stunden früher umdrehen als ich und eineinhalb Monate, neun Tage und 15 Minuten vor mir machte Hugo seinen ersten Schritt in die weit geöffneten Arme einer Erwachsenen, angelockt von einem Plüschtier in Form eines Hirsches, dessen Hinterteil aus einer Glocke bestand. Ich wiederum machte meinen ersten Schritt unbeobachtet, als sich außer mir gerade niemand im Raum befand, weshalb, nicht ganz zutreffend, mein erster Schritt von den Erwachsenen als eineinhalb Monate, sieben Tage und zwei Minuten später registriert wurde.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. Alle Texte auf dasnd.de/hohmann.
Hugo und ich waren Freunde, ohne dass wir uns jemals für eine Freundschaft entschieden haben. Wir waren es eben einfach – weil man es für uns entschieden hatte. Klitzekleine Geschöpfe derselben Art.
Als wir älter wurden, veränderte sich unsere Freundschaft ein wenig. Wir konnten nun sprechen, taten es aber wenig. Stattdessen entwickelte Hugo, der noch immer wesentlich zierlicher als ich war, eine starke Vorliebe für Verrenkungen, die er uns auch regelmäßig vorführte. Er bat uns einzeln in sein halbdunkles Kinderzimmer, in dem er uns, schon im Spagat auf dem Teppich sitzend, begrüßte, um uns seine, wie er es nannte, »Verdrehungsshow« zu zeigen.
Etwa zur selben Zeit muss es gewesen sein, dass Hugos Eltern regelmäßig nach unseren Besuchen blaue Flecke an seinem Körper entdeckten, die, wie sich herausstellte, Bissspuren waren. Wir wurden kurz darauf getrennt und durften keine Zeit mehr allein in einem Zimmer verbringen, denn es zeigte sich, dass ich Hugo – aus Liebe – versucht hatte zu verzehren. Hugo und ich sahen uns nie wieder.
Vielleicht liegt es an ebendieser Vorgeschichte, dass ich kürzlich hellhörig wurde, das heißt, helläugig, als ein Mensch in einem Slogan-Shirt an mir vorbeilief, auf dem stand: »A kiss is the beginning of cannibalism«. Vielleicht ist es tatsächlich das leicht Abgründige im sonst so unschuldigen Begehren, das mich reizt. Schon immer ist es eine meiner größten Ängste, die Person, die ich besonders liebe, aus Versehen umzubringen – vielleicht sogar aus Liebe, aus diesem seltsamen Impuls des »Etwas mehr«. So wie wenn man ein flauschiges Küken in der Hand hält und spontan Angst davor hat, ein wenig zu fest zuzudrücken. Oder wenn man kurz vor dem Einfahren der U-Bahn doch noch darüber nachdenkt, sich leicht nach vorn kippen zu lassen, einfach nur, weil man könnte.
Tourette-Gedanken sind das, sozusagen. Verbotene Gedanken, wie wenn man beim Sex mit dem Partner an einen anderen Menschen denkt. Und sie sind, wie ich lerne, »ganz normal« – was auch immer diese Kategorie bedeuten soll. Jemand sagte mal zu mir: »Wenn man diese Gedanken hat, ist das ein Zeichen dafür, dass man sie gerade nicht in die Realität umsetzt. Man muss sie denken, um sie aus dem Kopf zu kriegen. So wie in der Oper: Katharsis.«
Tatsächlich erinnere ich mich, wie ich, im Kindergartenalter, mit meinen Eltern meine erste Oper besuche: »Carmen«. Am Ende, als Carmen tot ist, heule ich Rotz und Wasser. Meine Mutter, die annimmt, ich trauere um die Ermordete, versucht, mich zu trösten, da stellt sich heraus: Ich habe gar nicht um Carmen geweint, sondern um ihren Mörder, den Eifersüchtigen, den Betrogenen, den Schuldigen.
Als Reaktion darauf beißt meine Mutter mich, aus lauter Rührung über ihr empathisches und reflektiertes Kind, so fest in den speckigen, kindlichen Oberarm, dass ich leicht anfange zu bluten. Die kannibalistischen Tendenzen scheinen wohl in der Familie zu liegen.
Apropos Slogan-Shirts: Neulich lief eine mir fremde Person die Straße entlang, ihr Shirt schrie mich in Versalien an: »Love is spending time together«. Die Message ist so klar, so direkt, dass ich mir keinen Reim auf sie machen kann. Ich rätsele noch immer, was ihr Subtext, ihre zweite Ebene sein könnte.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!