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Alternativwirtschaft: Zwischen Nische und Utopie
Berlin ist ein Sammelbecken alternativ wirtschaftender Unternehmen – wie dem Direkthändler »Solidaritrade«
Berlin hat eine lange und ausgeprägte Tradition sogenannter Alternativökonomie – also Betriebe und Genossenschaften, die sozial-ökologische Alternativen zur profitorientierten Wirtschaft schaffen. Laut der Studie »Anders wirtschaften in Berlin« des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung entstanden seit den 1970er Jahren zahlreiche alternativwirtschaftliche Initiativen, auch um politischem Aktivismus eine ökonomische Grundlage zu geben. Beispiele sind die Kinderläden oder das Frauenzentrum »Schokofabrik« in Kreuzberg.
Eine jüngere Genossenschaft, die sich Marktmechanismen widersetzt, ist »Solidaritrade«. Genau wie das »nd« ist sie am Franz-Mehring-Platz beheimatet, ihre Geschichte beginnt jedoch in Athen. Dort erfuhr Anne Schindler, Ökonomin und Vorständin von »Solidaritrade«, 2016 von der Gründung einer landwirtschaftlichen Genossenschaft im Südwesten der Halbinsel Peloponnes. Fünf Olivenbäuerinnen taten sich zur »Messinis Gea Kooperative« zusammen. Die Idee einer »solidarischen Handelsbeziehung« war geboren, erzählt Schindler dem »nd«. Im Jahr darauf habe sie »Solidaritrade« gegründet.
»Unser Anspruch ist ein Direkthandel ohne Zwischenhändler*innen, damit möglichst viel Geld bei den Produzent*innen landet«, erklärt die 36-Jährige. »Solidaritrade« kauft »Messinis Gea« jedes Jahr eine vorab festgelegte Menge Olivenöl ab – 2018 waren das 10 000, in den vergangenen Jahren meist 25 000 Liter –, was den inzwischen 20 Landarbeiter*innen Planungssicherheit verschafft. Den Kaufpreis dürfen sie selbst festlegen und orientieren sich dabei nicht am Marktpreis, sondern an der tatsächlichen Arbeit, die im Produkt steckt. »Wir verhandeln nicht, sondern zahlen, was das Öl wert ist«, fasst Schindler zusammen.
In diesem Jahr habe allerdings die Klimakrise dazwischengefunkt: Dürren, Brände und Fluten hätten die Ernten in Griechenland extrem reduziert, sodass »Messinis Gea« nur 10 000 Liter an »Solidaritrade« verkaufen konnte. Außerdem sei der Marktpreis in die Höhe geschossen und liege aktuell vermutlich über dem eigentlichen Produktwert. Geeinigt habe man sich auf 8,30 Euro pro Liter Olivenöl.
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In Deutschland organisiert »Solidaritrade« mit Ehrenamtlichen in verschiedenen Städten Verteilungen an die Endkund*innen, die gebeten werden, das Öl der Marke »Mazi« in möglichst großen Mengen vorzubestellen. Das spare Verpackungskosten und sei nachhaltiger. In Berlin wird das Olivenöl außerdem im Lesecafé »Babett« sowie im nd-Shop, in Leipzig im queeren Laden »Simsala Ost« verkauft.
Dabei gehe es jedoch nicht nur um das eigentliche Produkt. Der Verkauf habe einen »doppelt solidarischen Charakter«, wie Schindler es nennt. Denn für jeden verkauften Liter Olivenöl wird ein Euro gespendet an unterschiedliche, oft griechische Organisationen, die die Ehrenamtlichen der verschiedenen Städte auswählen. Die Münchner*innen spendeten in diesem Jahr beispielsweise an die Flüchtlingshilfe auf Lesbos, die Bochumer*innen an die Athener Obdachlosenzeitung »Shedia«. Außerdem verbindet Schindler den Verkauf mit politischer Bildung, indem sie jeder Bestellung einen Flyer beilegt, der über die Wirtschaftskrise in Griechenland oder den menschenunwürdigen Umgang des Landes mit Geflüchteten aufklärt. »Griechenland ist ein Musterbeispiel für viele Sachen, die falsch laufen«, findet sie.
Für sie ist »Solidaritrade« in erster Linie politische Arbeit – weder sie selbst noch die vier anderen Genossenschaftsmitglieder verdienen damit Geld. Lediglich ein Euro pro verkauftem Liter gehe an die Genossenschaft, womit Verpackung und Buchhaltung bezahlt werde. Sie finde »die Idee des solidarischen Wirtschaftens« einfach interessant und dass man dadurch Dinge verändern könne.
Natürlich wisse sie, dass das Mazi-Olivenöl ein Nischenprodukt ist und den Kapitalismus nicht zu Fall bringen wird. Tatsächlich funktioniere der Vertrieb aber auch nur in diesem kleinen Maßstab, weil sie die griechischen Landarbeiter*innen und die ehrenamtlichen Helfer*innen persönlich kenne. Die doppelte Menge Öl könnte auf dieselbe Art wohl schon gar nicht mehr verteilt werden. Und einige Menschen habe man offenbar gerade in dieser Nische zum Umdenken bewogen.
Auch die Studie »Anders wirtschaften in Berlin« beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern alternative Wirtschaftsweisen das ökonomische System transformieren können, obwohl sie meist im überschaubaren Rahmen agieren. Dennoch könnten sie größeren Unternehmen als Vorbild dienen und »eine Brücke schlagen zwischen Einzelaktivität und System, zwischen Nische und Mainstream, zwischen Praxis und Utopie«, heißt es dort. So habe das Berliner Bau-Kollektiv »Hacke & Hobel« durch die Anschaffung einer elektronisch- statt dieselbetriebenen Baumaschine Branchenstandards verschoben und andere Betriebe anhand des eigenen Beispiels zur Ausbildung von Geflüchteten motiviert.
Außerdem nehme das Solidar- oder Spendenprinzip, das viele alternativ wirtschaftende Unternehmen auszeichnet, positiven Einfluss. »Hacke & Hobel« unterstütze beispielsweise Hausprojekte, wobei Wohnraum dem spekulativen Immobilienmarkt entzogen wird. Das Frauenzentrum »Schokofabrik« vermiete selbst Wohnungen an Benachteiligte und biete mit dem queeren Gesundheitszentrum Casa Kuà zudem einen Rückzugsraum für von Diskriminierung betroffene Menschen in Berlin.
Die in Berlin gegründete Suchmaschine Ecosia erwirtschafte zwar Gewinne, verwende diese jedoch zu 80 Prozent, um Bäume zu pflanzen. Und genau wie »Solidaritrade« vernetzt der Berliner Lebensmittelbetrieb »Schnittstelle« Landwirt*innen – in diesem Fall allerdings aus der Region – per Direkthandel mit den Verbraucher*innen und verbinde damit eine politische Botschaft hinsichtlich nachhaltiger Landwirtschaft.
Schließlich seien alternativ wirtschaftende Betriebe »Orte für die Einübung kollektiver Selbstorganisation und partizipativer Entscheidungsfindung« und könnten so »als Keimzellen einer demokratischen und solidarischen Wirtschaftskultur wirken«. Exemplarisch dafür stünden das Konsensprinzip bei »Hacke & Hobel« oder die Genossinnenschaft der »Schokofabrik«.
»Die kulturellen, städtebaulichen und wirtschaftlichen Freiräume, die alternative Nischen ermöglichen, sind bedroht.«
Anne Schindler Solidaritrade
Auch für Schindler spielt das genossenschaftliche Modell eine entscheidende Rolle. Im kapitalistischen System sei dieses »die demokratischste Möglichkeit, anders zu wirtschaften«. Jedes Mitglied habe eine Stimme und könne sich einbringen. Die »Messinis Gea Kooperative« entscheide außerdem im Konsens, wofür sie ihr Geld ausgibt und habe sich dabei stets Qualität und Nachhaltigkeit verpflichtet. So werde nur die hochwertige Koroneiki-Olive angebaut, in Boxen statt in Plastiktüten gelagert, kalt gepresst und in einer Abfüllanlage verarbeitet, die EU-Standards entspricht.
Dennoch könne man am Vertrieb des Öls in Deutschland sicher einiges kritisieren, zum Beispiel, dass es kein regionales Produkt ist, sondern quer durch Europa transportiert werden muss. Schindler rechtfertigt das damit, dass man in Deutschland nun mal keine Oliven anbauen kann. Mit derselben Begründung verkauft »Solidaritrade« auch Thymian-Honig eines Imkers aus Kreta, der hierzulande genauso wenig regional produziert werden könnte.
Ein weiterer Haken sei, dass der Liter mit 16 Euro sicher nicht für alle Menschen bezahlbar sei. Drücken ließen sich die Kosten jedoch nur bei den Produzent*innen. Die Ehrenamtlichen, die das Öl verteilen, würden ja ohnehin nicht bezahlt – »streng genommen beuten wir sie aus«, sagt Schindler selbstkritisch. Aber eine Genossenschaft lebe nun mal von Partizipation und gemeinsam wolle man sich »dem Profitstreben entgegenstellen«. Auch die Studie bewertet ehrenamtliche Arbeit ambivalent. Einerseits bleibe sie häufig Privilegierten vorbehalten, die über ausreichend Zeit, Geld und Gesundheit verfügen. Andererseits könne Ehrenamt »bereits ein Alternativangebot sein, wenn die lohnabhängige Tätigkeit als sinnentleert wahrgenommen wird«.
Ohnehin sei die Entwicklung radikaler ökonomischer Alternativen im bestehenden System eine große Herausforderung – in Berlin allein deshalb, weil bezahlbare Arbeitsräume knapp sind. »Die kulturellen, städtebaulichen und wirtschaftlichen Freiräume, die alternative Nischen ermöglichen, sind bedroht«. Die Politik sei gefragt, entsprechende Förderungen nicht nur für wirtschaftliche Mittel, sondern auch für Räume bereitzustellen. Schließlich trügen die alternativen Nischen durch ihre sozial-ökologischen Ansprüche »zu einem breiteren gesellschaftlichen Bewusstseinswandel« bei.
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