Deutschland kaputt!

Wie ein Museum, das an den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion erinnerte, zuerst umbenannt und dann vergessen wurde

Kapitulation!
Kapitulation!

Karlshorst ist eine stille Gegend, die, wenn man an einem Samstag oder Sonntag gemächlich hindurchspaziert, einen beängstigend aufgeräumten Eindruck macht, ganz so, als würde dort gar niemand wohnen und als seien die Häuser nur eine Kulisse. In diesem Ortsteil des Bezirks Lichtenberg befindet sich das schönste Museum Berlins.

»Karlshorst«, das klingt sehr deutsch. Besonders dann, wenn man den Ortsnamen vier oder fünf Mal hintereinander sehr schnell ausspricht. Dann hört sich das an »wie eine Schreibmaschine, die Alufolie frisst und die Kellertreppe hinuntergetreten wird«. So jedenfalls beschrieb einmal der irische Komiker Dylan Moran die besondere akustische Qualität der deutschen Sprache. »Karlshorst«: ein Wort, bei dessen Erklingen man Opa in seiner schmucken Wehrmachtsuniform förmlich im Geiste vor sich stehen sieht. Eine Assoziation, die durchaus ihre Berechtigung hat; vor allem wenn man in Betracht zieht, dass das Haus, das das Museum beherbergt, von dem eingangs die Rede war, bis 1945 ein Offizierskasino der Deutschen Wehrmacht gewesen ist.

Das besagte Museum, das am Ende einer langen Straße liegt, heißt heutzutage schlicht »Museum Berlin-Karlshorst«, was ein bedenklich nichtssagender Name ist für eine bedeutsame historische Stätte. Das Haus heißt deswegen so, weil nationalistische Politfunktionäre der Ukraine Anstoß nahmen am vorherigen Namen »Deutsch-Russisches Museum Karlshorst«. Zu mutmaßen ist aber, dass man diesen nicht nur deswegen um die Zuschreibung »Deutsch-Russisch« gekürzt hat. Man war insgeheim möglicherweise auch erleichtert darüber, dass die Museumsbezeichnung keine spezifische Information mehr darüber enthielt, was der Zweck des Hauses war und ist. Sodass die Mutmaßung Ortsfremder, es mit irgendeinem nichtigen lokalen Gemeindemuseum zu tun zu haben, das in putzigen kleinen Schaukästchen über Traditionen der örtlichen Bevölkerung informiert und in dem Porzellankrüglein aus heimischer Produktion und andere irrelevante Dinge ausgestellt sind, nicht völlig abwegig ist.

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Es ist nicht auszuschließen, dass man vor zwei Jahren dem Gebäude diesen neuen Namen gegeben hat, weil man es so dezent und unauffällig wie möglich aus dem öffentlichen Gedächtnis tilgen möchte. Das Haus, das zugleich ein Baudenkmal sowie ein Ort der Erinnerung ist, hatte früher einen anderen Namen, der das Wesen und den Sinn des Areals treffender erfasste.

In der unmittelbaren Umgebung des Gebäudes rosten ein sowjetischer T-34-Panzer und andere antike militärische Gerätschaften vor sich hin, und wer den Blick ein wenig schweifen lässt, das sprießende Unkraut, den Müll und die kaputten Gehwegplatten aus DDR-Zeiten betrachtet, dem fällt rasch auf, dass hier lange Zeit kein Geld ausgegeben wurde.

Das Museum dokumentiert mittels zahlreicher Schriftstücke, Fotos und Gegenstände den Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion und die Niederlage des deutschen Faschismus. In dem im Erdgeschoss befindlichen Speisesaal des Offizierskasinos wurde am 8. Mai 1945 von Wehrmachtsoffizieren die Kapitulationsurkunde unterzeichnet, was den Zweiten Weltkrieg und die Naziherrschaft offiziell beendete.

Bis 1994 trug das Haus den Namen »Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands im Großen Vaterländischen Krieg«, bevor man es 1995 in »Deutsch-Russisches Museum« umtaufte, was aus heutiger Sicht wohl als erster Schritt gewertet werden muss, sowohl das nationalsozialistische Deutschland als auch dessen Untaten und Verbrechen sanft, aber mit Nachdruck ins Reich der Vergessenheit zu verschieben.

Denn der – in diesem Fall tatsächlich primär westdeutsche – Geschichtsrevisionismus, der pünktlich am 10. Mai 1945 begann und seit 1990 beständig an Geschwindigkeit und Unverschämtheit zulegt, kennt keine Pause. Mitte der 90er Jahre hießen die Opfer des deutschen Nationalsozialismus von heute auf morgen plötzlich »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«, waren also nicht mehr Nazi-Opfer, sondern Opfer irgendwelcher unspezifischen überzeitlichen Phänomene, gegen die nichts auszurichten ist. Geschichte wird gemacht, es geht voran.

Spätestens seit den großen Wahlerfolgen der AfD räumt man in diesem Land endgültig mit der nicht ruhen wollenden deutschen Vergangenheit auf. Der Holocaust und die Tötung von mehr als 25 Millionen Sowjetbürgern sei »nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte«, belehrte uns vor ein paar Jahren ein führender Funktionär der AfD. Wenn das Umschreiben, Umlügen und Umdeuten der historischen Tatsachen, das in vollem Gange ist, in dem Tempo weitergeht, werden die jungen Bundesbürger schon in wenigen Jahren der unumstößlichen Überzeugung sein, die Deutschen des Dritten Reichs seien die ersten Opfer des Zweiten Weltkriegs gewesen. Beziehungsweise natürlich: die ersten Opfer von »Krieg und Gewaltherrschaft« – beides Phänomene, die urplötzlich vom Himmel fielen.

Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft das Haus nicht wieder den Namen haben sollte, den es lange Zeit trug. Wobei, ginge es nach mir, auf das Wort »vaterländisch« gerne verzichtet werden darf.

Sicher ist jedenfalls: Der Eintritt in das Museum, das täglich außer montags geöffnet ist, ist frei.

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