Empfänger im Sender

Unser Rundfunk könnte schöner werden: Die Utopie eines pluralen Realradios

  • Jürgen Roth
  • Lesedauer: 5 Min.
Diese Männer sollten nicht nur Radio hören, sondern im Radio singen (wie Gerd Müller, 2. v. r., es dann auch tat).
Diese Männer sollten nicht nur Radio hören, sondern im Radio singen (wie Gerd Müller, 2. v. r., es dann auch tat).

Niklas Luhmanns 1996 erschienenes Buch »Die Realität der Massenmedien« beginnt mit einem zu einer gewissen Prominenz gelangten Satz: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« Mit Fug darf man einwenden: Und was ist mit lebendiger Arbeit? Mit stofflich gebundener Erfahrung? Mit den konkreten Örtlichkeiten, an denen wir auf leibliche Wesen treffen, zu denen wir ein redendes und handelndes Verhältnis unterhalten?

Die geradezu dogmatische Abstraktion des Soziologen Luhmann popularisierte die Systemtheorie, die bis heute auf die Medienwissenschaften keinen unerheblichen Einfluß ausübt. Sie zielte auf des Pudels Kern der Massenmedien, zu denen Luhmann neben Zeitungen und dem Fernsehen explizit das Radio rechnete; auf die innere Logik jener Apparate, deren Spezifikum neben der Selbststabilisierung und -erhaltung die Herstellung einer operativ abgedichteten Weltansicht ist, deren Geltung im Hörensagen und im Glauben der Rezipienten gründet, so dass »das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt«.

Der Konstruktivist Luhmann, der keinerlei normative Ansprüche hegte, beschrieb diese funktional geschlossenen, also selbstreferenziellen und autopoetischen Gebilde als radikal immanente Realitätserzeuger, deren Erzeugnisse (Luhmann nannte sie »Konstruktionen«) – Nachrichten, Kommentare, Berichte, Features, Interviews – ausschließlich der Idee der Kontrolle über den eigenen unveränderten Fortbestand gehorchen. Eine Vielfalt von Sichtweisen, Standpunkten, Perspektiven, Wirklichkeitsvermittlungen und Wahrheitsanforderungen kann es da nicht geben. Das mag zynisch klingen, spiegelt aber die seit längerer Zeit recht einhelligen Urteile nicht weniger Gebührenzahler, die bevorzugt in Internetforen ihrem Unmut Luft machen.

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Luhmann konstatierte nüchtern zweierlei. Zum einen: Man müsse »von der Realität der Massenmedien [sprechen] im Sinne dessen, was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint«. Und dieser Schein, dessen wirklichkeitsvernichtender Wirkung sich bereits Platons Höhlengleichnis gewidmet hatte, lockt – zum zweiten – nahezu unweigerlich die Manipulation, die Zensur durch subsystemfremde Machtinstanzen an: »Gerade wenn man davon auszugehen hat, daß es sich in jedem Falle um eine konstruierte Wirklichkeit handelt, kommt diese Eigenart der Produktion einer externen Einwirkung besonders entgegen. Das hat sich sehr gut an der erfolgreichen Militärzensur von Reportagen über den Golfkrieg gezeigt.«

Die Pointe von Luhmanns kühler Analytik ist: »Entscheidend ist auf alle Fälle: daß keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann« – mithin der massenmedienkonstitutive Ausschluß tatsächlicher Kommunikation. Genau dies – die Immunisierung des Rundfunks gegen reale Sprachbeziehungen – hatte Bertolt Brecht schon 1932 in seiner Radiotheorie bemängelt. Hans Magnus Enzensbergers berühmter Essay »Baukasten zu einer Theorie der Medien« von 1970 knüpfte daran an. »In der heutigen Gestalt«, führte Enzensberger aus, dienten Öffentlichkeitsapparate »nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu: Technisch gesprochen, reduzieren sie den Feedback auf das systemtheoretisch mögliche Minimum.«

Statt substanzielle Korrelationen auf dem sozialen Feld der »Spontaneität«, der »Dezentralisation« und der »antiautoritären Desintegration« zu initiieren, nutzten laut Enzensberger die »Manipulateure« die Weltsimulationsmaschinen, um die jenen anbefohlenen »Steuerungs- und Kontrollfunktionen« zu erfüllen. Dabei liege die Dialektik auf der Hand: »Die elektronische Technik kennt keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger. Jedes Transistorradio ist, von seinem Bauprinzip her, zugleich ein potenzieller Sender.« Es sei ein Werkzeug der Emanzipation von Bevormundung und Bewusstseinslenkung, dem Enzensberger explizit »utopische« Potenziale attestierte, namentlich solche eines habermasianischen »herrschaftsfreien Diskurses«.

In Anbetracht der fundamentalen Krise des öffentlich-rechtlichen Radios, das sich durch stete Einsparungsdiktate und Formatierungszwänge nicht nur organisatorisch, sondern ebenso in inhaltlichen Fragen und hinsichtlich der Verarmung der Formensprachen gründlich in Zweifel zu ziehen hätte, wäre ernstlich über einen zumindest partiellen basisdemokratischen Umbau des Anstaltenagglomerats nachzudenken (selbstverständlich ohne Verzicht auf vielstimmige Professionalität, Seriosität und Kunstfertigkeit); über eine Öffnung gegenüber dem Devianten, Unerwarteten, Ungebändigten, gegenüber der Pluralität der Welt, einer Welt, wie sie Hannah Arendt als eine dem Menschen in seiner unendlichen Eigensinnigkeit gemäße skizziert hat.

1997 pries der Radiomaniac Eckhard Henscheid in einem Beitrag für das Programmheft des Deutschlandfunks die – »trotz aller Kürzer-kürzer-Appelle« – damals noch einigermaßen ausgeprägte »Minderheitenfreundlichkeit« des Rundfunks. Gleichwohl wünschte er sich bereits zu jener Zeit »mehr Eigenwilligkeit der Formen, Frechheit der funkisch-medialen Transmission, Minderheitenhaftigkeit der Themen« – und: »Die Minderheiten selber sollten« – über die Hörerbeteiligungssendungen hinaus – »noch aktiver werden« und »noch abartigeren Formen nachspüren« und diese »wesentlich selbst realisieren«, »zeitlich möglichst unbegrenzt«.

Ein fröhliches Durcheinander schwebte Henscheid vor, ein Volksradio auf anarchistischer Basis, befreit von Hierarchien und bürokratischem Irrwitz und mit unreglementierten, autonomen Produzenten. »Warum«, fragte er, »hört man eigentlich nicht […] mehr Hörer im Radio singen? Männer wie du und ich, die alles haben, nur keine Stimmen. Sondern nur Frauen. Die aber sollen ihrerseits nicht singen; sondern vielmehr gurren. Im Radio neue Formen erotischen Gurrens und Girrens entwickeln. Während uns irgendwelche Kinder und Jugendliche anschließend erklären, was es mit Einstein, der kosmischen Urknall-Theorie und Kasparows Scheveninger Sozialismusvariante oder jedenfalls Sizilianischeröffnung auf sich hat. […] Ich möchte überhaupt und generell, dass noch viel […] enthemmter im Radio gesprochen beziehungsweise herumrandaliert wird, […] entzückter und entzückungsbetreibender als kurz vor Mitternacht auf dem Oktoberfest.«

Es wäre ja mal ein Anfang. Zur Prosa der Verhältnisse käme man eventuell später.

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