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Shoah-Überlebender: »Nehmt ernst, was die AfD verkündet!«
Der Shoah-Überlebende Leon Weintraub über Gedenktage, Ansprachen im Land der Täter und seinen Wunsch zum 99. Geburtstag
Lieber Leon Weintraub, wir haben uns neulich in Łódź getroffen, am 1. September. Ein bedeutsamer Tag, insbesondere für Sie als Überlebenden der Shoah: zum einen der 85. Jahrestag des Überfalls der Deutschen auf Polen, zum anderen der Tag in diesem Jahr, an dem in zwei deutschen Bundesländern eine neue faschistische Partei ein Drittel der Stimmen erringen konnte. Wie haben Sie den Tag erlebt?
Der 1. September hat für mich sehr viele Bedeutungen. Da ist vor allem anderen das Erlebnis als 13-jähriger Junge, als die Nazi-Wehrmacht 1939 Polen überfiel. Zweitens der 1. September 1969, als ich mich gezwungen sah, Polen zu verlassen. Ich hatte meine Arbeit verloren aufgrund einer antisemitischen Welle, von oben gesteuert. Wieder waren wir Juden Sündenböcke. Ich habe das Land verlassen mit einem Papier, das mir nur erlaubte, die Grenze in eine Richtung zu überschreiten. Ich überquerte mit meiner Familie, mit dem Auto, mit allem Hab und Gut, die Grenze bei Frankfurt (Oder). Auf dem Weg nach Schweden, von wo ich Einreisevisum, Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis im Voraus erhalten hatte und wo ich mit offenen Armen aufgenommen wurde.
Und dann, der nächste »1. September«, das war der 7. Oktober vorigen Jahres ...
… als die Hamas Israel überfiel, 1200 Menschen ermordete und 250 verschleppte.
An diesem Samstagmorgen wurden wir in Tel Aviv um halb sieben geweckt von Sirenengeheul – und da war ich wieder am 1. September 1939. Der gleiche Klang. Keine Feuerwehr, keine Ambulanz. Es war ein besonders langgezogener Ton, der kein Ende nahm. Laute, unangenehme Erlebnisse. Tiefgreifend, mein ganzes Ich erschütternd. Das war der 1. September, und der ist immer noch und wird immer bleiben, solange ich am Leben bin.
Leon Weintraub, 1926 in einem Armenviertel in Łódź geboren, erlebte ab September 1939 die Schrecken der deutschen Besatzung in Polen und seiner Heimatstadt, wo er mit seiner Familie im Ghetto Litzmannstadt leben musste. Nach dessen Auflösung 1944 wurden die Weintraubs nach Auschwitz deportiert. Leon Weintraubs Mutter und die meisten anderen Verwandten und ehemaligen Ghetto-Bewohner*innen wurden dort sofort ermordet. Wie durch ein Wunder entkam Weintraub und überlebte nach Verbringungen in die Lager Groß-Rosen, Flossenbürg und Offenburg die Shoah. Er studierte Medizin und Frauenheilkunde in Göttingen, übersiedelte nach Polen, wo er Oberarzt an einem Klinikum war, ehe er aufgrund einer neuen antisemitischen Welle in Osteuropa 1969 das Land verlassen musste. Er lebt seither in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Unermüdlich trifft er Schüler*innengruppen und Bildungsreisende und trägt sein Vermächtnis aus der Shoah weiter. 2022 erschien sein Interviewbuch »Die Versöhnung mit dem Bösen. Geschichte eines Weiterlebens« (mit Magda Jaros, Wallstein). Am Freitag sprach er anlässlich des Gedenkens an die Pogrome in Nazideutschland am 9. November 1938 vor dem niedersächsischen Landtag. Das Interview wurde vor diesem Termin geführt.
Gleichzeitig ist es für mich ein großes Erlebnis, wenn ich deutschen Menschen begegne, die sich Gedanken machen und versuchen zu ergründen, wie die Deutschen den Versuch zustande bringen konnten, ein ganzes Volk aus der Welt zu schaffen. So war das am 1. September in Łódź, meiner Geburtsstadt, wo ich eine Gruppe Deutscher auf einer Reise des Bildungswerkes Stanisław Hantz begleitete.
Nun erinnern wir an den 9. November 1938, den Tag der antisemitischen Novemberpogrome im Deutschen Reich, die eine weitere Eskalation auf dem Weg nach Auschwitz markierten. Sie haben dazu im niedersächsischen Landtag vor deutschen Parlamentarier*innen gesprochen. Was bedeutet das für Sie?
Mit den Fragen des Holocaust bin ich sehr intensiv beschäftigt, seit ich im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand getreten bin. Jetzt bin ich bald 99. Ich habe schon ein bisschen Routine, kann man wohl sagen, aber es ist für mich immer ein sehr starkes Gefühl, wenn ich vor so einem Gremium eine Ansprache halten darf, gerade im Land der Täter. Nur zwei, drei Generationen zurück ist Deutschland das Land der Täter gewesen. Die große Mehrheit der Deutschen zu jener Zeit ist Hitler gefolgt, hat die Ideologie der NSDAP bejaht.
Ich erinnere mich gut an einen Vortrag im Doku-Zentrum in Nürnberg, in dem Raum, wo Hitler seine Anhänger auf sich eingeschworen hatte. Ein erhabenes Gefühl: Ich habe überlebt und meine Verfolger sind nicht mehr da. Und ich bin kein Opfer, ich lebe ja. Ich habe ja gesiegt durch Überleben.
Sie haben das Ghetto Litzmannstadt (Łódź) und das Vernichtungslager Auschwitz überlebt.
Letztlich überlebt habe ich durch eine einzige, instinktive Handlung, von der ich gar nicht erklären kann, wie sie zustande kam. So konnte ich aus Auschwitz entkommen: Eines Tages sah ich eine Gruppe nackter Männer zwischen Block 16 und Block 18. Ich war zu der Zeit in Block 10, dem Jugendblock. Als ich fragte, was sie da machen, haben sie mir gezeigt, dass sie gerade registriert worden waren, also ihre Nummer auf den linken Unterarm tätowiert bekommen hatten. Und nun warteten sie auf Kleider, um zur Arbeit gebracht zu werden. Das war für mich ein Signal. Ganz spontan, ohne eine Sekunde zu überlegen, drückte ich mich in den Schatten der Wand, warf meine halb zerschlissenen Kleidungsstücke ab, Jacke, Hemd, Hose, und drängte mich tief rein in die Gruppe dieser Männer. Mein guter Stern: Ich wurde nicht kontrolliert, niemand entdeckte, dass ich nicht registriert war, sonst hätten sie mich da behalten. So kam ich in den Zug und raus aus Auschwitz. Ein paar Tage später wurde der ganze Block 10, alle Jugendlichen, als »arbeitsunfähig« beurteilt und in die Gaskammer gebracht. Durch diese Rettung habe ich die Ehre, noch hier zu sein und mit Ihnen zu sprechen.
Wie fühlt es sich an, dass 17 der Abgeordneten im niedersächsischen Landtag einer Partei angehören, die als »rechtsextremistischer Verdachtsfall« geführt wird, in der viele die Shoah mindestens verharmlosen und – gut vernetzt mit faschistischen Vorfeldorganisationen – den Thüringer AfD-Chef Höcke als »herausragende Persönlichkeit« ehren?
Es ist für uns Überlebende und für mich etwas ganz Besonderes, so aktiv seit vielen, vielen Jahren mit dieser Frage beschäftigt zu sein und nach Möglichkeit zu versuchen, vor allem jungen Deutschen, aber auch jungen Polen klarzumachen, dass die Haltung solcher Leute, der Hass gegenüber anderen auf geradem Wege zur Gaskammer führt. Es schmerzt zu wissen, dass es immer noch Menschen gibt, die kein Gefühl für Geschichte haben und bejahen, was die Nationalsozialisten angerichtet haben. Aber ich bin schon so erfahren, dass ich weit davon entfernt bin, etwas zu befürchten, wenn im gleichen Saal ein paar AfD-Abgeordnete sind. Wenn jemand Angst haben sollte, dann eher sie vor mir als ich vor ihnen. Sollten sie es je wagen, mir offen entgegenzutreten, zu sagen, dass ich zur Gruppe der Untermenschen gehöre, dann kriegen sie aber was zu hören. Vergleichen wir doch, wer sind sie und wer bin ich, meinen Lebensweg und ihren Lebensweg. Sie sollten sich schämen, diese Ideologie wieder zutage zu fördern und als ihre eigene zu verkünden. Die sollen sich in Grund und Boden schämen und auf den Knien um Vergebung bitten, dass sie so denken.
Lesen Sie mehr zum Jahrestag der Reichspogromnacht: Justin Sonder wird mit einer Skulptur in Chemnitz geehrt, virtuelle Begegnung mit jüdischen Naziopfern in einer Ausstellung und Erinnerung an Mirjam Ohringer, die schon als Schülerin gegen Nazis kämpfte.
Viele scheinen die Aussagen der AfD nicht ernst zu nehmen.
Man wiederholt den gleichen Fehler wie in den 1930er Jahren. Die wollen das durchführen, was sie sagen. Deshalb bitte ich darum: Nehmt das wirklich ernst, was die AfD verkündet!
Davon abgesehen würde das Land stillstehen ohne die »Anderen«, auf die sie herabschauen und die sie einteilen in verschiedene Sorten – so wie damals, in Übermenschen und Untermenschen. Die sind dumm genug, das nicht einzusehen. Und es gibt viele Menschen, die für sie die Stimme abgeben, vielleicht gelockt durch die Sehnsucht nach dem großen Deutschland. Und was hat die Großmacht gebracht? Millionen und Abermillionen von Menschen sind ums Leben gekommen. Der Zweite Weltkrieg hat über 50 Millionen Menschen das Leben gekostet, nicht zuletzt auch die eigenen Leute. Nicht nur Europa lag in Ruinen, auch das eigene Land. Diese Kurzsichtigkeit, dieser Mangel an Geschichtsbewusstsein, das tut mir furchtbar leid für die Deutschen.
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Sie sprachen eben auch vom Massaker der Hamas. Was macht das mit Ihnen, wie gehen Sie mit diesem neuen Horror um?
Ich fühle eine große Trauer, aber auch eine sehr intensive Wut auf die Leute, die es gewagt haben, auf diese unfassbar grausame Art Menschen umzubringen und das alles noch zu filmen, zu dokumentieren. Es gibt die Bilder, wie eine Frau vergewaltigt und danach erschossen wird. Und von der triumphartigen Begrüßung der zurückkommenden Mörder mit ihren Geiseln in Gaza. Das bleibt mir für ewig im Auge und im Gehirn, das kann man nicht wegnehmen. Diese brutal kalkulierte Inszenierung, man kann kaum fassen, dass so etwas möglich ist. Und das Schmerzhafte für einen Menschen wie mich, der so etwas am eigenen Körper erlebt hat, ist, dass nach ganz kurzer Zeit kaum mehr von diesen grausamen Taten der Hamas die Rede ist, sondern nur noch von unverhältnismäßig reagierenden Israelis. Was heißt denn hier verhältnismäßig?
Was wünschen Sie sich angesichts der bedrückenden Weltlage zu Ihrem 99. Geburtstag am 1. Januar 2025?
Ich bin Arzt, Frauenarzt und Geburtshelfer. Diese Wahl habe ich bewusst getroffen: um zum Leben zu verhelfen. Meine geistigen Vorfahren waren die Vordenker der Französischen Revolution, Enzyklopädisten wie Diderot oder Voltaire, die den Begriff der Menschenrechte geprägt haben. Die drei Worte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind keine leeren Worte für mich. Es schmerzt mich zutiefst als Arzt und als Humanist, wenn Menschen leiden.
Mein tiefer Wunsch ist, dass die Menschheit Vernunft annimmt. Wenn ich als Frauenarzt operiere, sehe ich doch, egal welche Farbe die Haut hat, das Gewebe darunter ist hundertprozentig gleich bei allen Menschen. Und wenn wir den Astronomen lauschen, die uns berichten, dass es Galaxien wie unsere millionenfach gibt: Da sind wir doch ein kleines Stäubchen im Weltall. In diesem Stäubchen die Einwohner in Tausende Gruppen zu trennen, die sich leider sehr oft feindlich gegenüberstehen, ist das nicht absurd? Ich wünsche mir, dass die Völker reicher werden, wenn sie an Waffen sparen und die Wahl treffen, in Frieden miteinander oder nebeneinander zu leben. Das wünsche ich mir und der ganzen Welt zum Eintritt in mein 100. Lebensjahr.
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