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Tarek Shukrallah: »Wir dachten, wir wären die Ersten«
Tarek Shukrallah spricht über Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland
Vor Kurzem ist der Band »Nicht die Ersten« erschienen, in dem Erzählungen von Zeitzeug*innen archiviert und zusammengestellt werden. Wie ist das Buch entstanden?
Nach meinem Umzug nach Berlin suchte ich ein neues politisches Zuhause. So traf ich 2021 die Schriftstellerin Katharina Oguntoye bei einem Bühnengespräch in der Urania, moderiert von der Rapperin Sookee. In Folge davon lernte ich die Sängerin Achan Malonda kennen, und unser Berliner Kollektiv »QTI*BIPoC United« entstand. Das inspirierte mich zu erforschen, woran migrantische Queers of Color in Deutschland anknüpfen – politisch und lebensweltlich.
Warum haben Sie sich gerade für diesen Titel entschieden?
Eine Frage, die mich immer wieder umtreibt: Wieso fühlt es sich in sozialen Auseinandersetzungen so oft so an, als knüpfe man an nichts an, als müsse man das Rad neu erfinden? Dabei ist man immer Teil von etwas Größerem. Der Titel bezieht sich auf ein Zitat von Jin Haritaworn im Buch: »Wir dachten, wir wären die Ersten, aber das stimmt gar nicht.«
Sie sprechen im Buch von der »Vereinzelung« marginalisierter Geschichten. Wie beeinflusst das queere und antirassistische Bewegungen?
Man kann vereinzelt sein, weil man in Deutschland in einem Dorf aufwächst und eine queere Schwarze oder gar weiße Person ist. Oder man kommt nach Deutschland und fühlt sich in den diasporischen Communitys nicht wohl, aus politischen oder gesellschaftlichen Gründen. Vereinzelung hat verschiedene Dimensionen, und eine gemeinsame Erzählung durchbricht sie. Im Buch versuche ich, durch die Vielstimmigkeit der Biografien einen kollektiven Moment zu erzeugen: Einige Menschen wurden hier geboren, andere sind hierher geflüchtet oder anders migriert. Sie teilen Erfahrungen trotz aller Verschiedenheit.
Tarek Shukrallah ist Politik- und Sozialwissenschaftler*in, Community-Organizer*in und Autor*in. Shukrallah beschäftigt sich unter anderem mit Queer-of-Color-Kritikperspektiven, queerer Bewegungsgeschichte und Intersektionalität in Deutschland sowie mit Sexualpolitiken und politischer Transformation in Nordafrika. In mehrjähriger, umfangreicher Forschung, insbesondere in Zusammenarbeit mit dem Schwulen Museum Berlin, entstand der Band »Nicht die Ersten. Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland« (Assoziation A, 312 S., br., 18 €).
Viele der Geschichten im Sammelband haben vor allem einen starken Bezug zu Berlin. Erzeugt das nicht ein Ungleichgewicht zwischen Zentrum und Peripherie?
Es ist wichtig, über die Leerstellen des Buches zu sprechen. Archivierungsformen variieren in verschiedenen diasporischen Communitys, auch weil die Erfahrungen mit Institutionen unterschiedlich gut sind. Zudem sind die Archivstrukturen oft auf Orte wie Berlin beschränkt. Viele der verwendeten Materialien stammen aus dem Schwulen Museum, dessen Archiv schwul, westdeutsch und weiß geprägt ist. Es hängt auch mit der Transformation Deutschlands seit den 90er Jahren zusammen, dass es für Queers of Color immer schwieriger wird, an anderen Orten Räume zu finden. Viele der Menschen, die in dem Buch vorkommen, sind mittlerweile nach Berlin gezogen, obwohl sie ursprünglich woanders gelebt haben.
Warum fiel der Fokus auf die 90er Jahre?
Man kann den Kampf um die gleichgeschlechtliche Ehe und die Erfolge der schwul-lesbischen Bürgerrechtsbewegung in den 90er Jahren nur im Kontext des Mauerfalls verstehen. Dieser Moment bedeutete nicht für alle das Gleiche. Am Aufstieg der Grünen kann man gut sehen, wie Gleichstellungspolitiken Vorrang vor radikalen Infragestellungen von Respektabilität sowie antikapitalistischen und intersektionalen Kämpfen erhielten und durchgesetzt wurden. Für weiße bürgerliche Schwule und Lesben war der Mauerfall ein Gelegenheitsfenster, sich politisch zu etablieren, während radikalere Bewegungen der 70er Jahre in den Hintergrund traten. Eine neue deutsche Identitätspolitik propagierte Nationalstolz und Versöhnung, mit Deutschland als kapitalistischem Land im Mittelpunkt. Gleichzeitig bereitete sich in den 90er Jahren eine rassistische Pogromstimmung aus. Diese Zeit, als »Baseballschlägerjahre« bekannt, war geprägt von rassistischer Gewalt und Morden sowie von Vereinzelungs- und Verängstigungserfahrungen für alle, die nicht ins Idealbild der deutschen Versöhnung passten. Auf dieser Grundlage konnten Erfolge wie die Ehe für alle durchgesetzt werden, während rassistische und queerfeindliche Ausgrenzungen parallel weiter existierten.
Wie haben Sie entschieden, mit wem Sie sprechen?
Als ich mit der Recherche begann, wurde mir klar, dass es wenig Sinn ergibt, migrantische und BiPoC-Stimmen entlang der kanonisierten Erzählungen der Schwulen- oder Frauen- und Lesbenbewegung zu suchen. Stattdessen habe ich die gegenwärtigen Queer-of-Color-Aktivismen rückwärts analysiert, um ihre Geschichten zu verstehen. Darüber fand ich meine ersten Gesprächspartner*innen. Danach funktionierte es durch das Schneeballprinzip, dass ich immer im Gespräch auf weitere relevante Stimmen verwiesen wurde. Ich merkte, dass in Erzählungen oft Konflikte und Widersprüche deutlich werden, wodurch manche Geschichten durchdringen und andere nicht. Durch die Vielstimmigkeit versuche ich, diese Dynamik zu durchbrechen.
Was macht Kunst und Kultur so wichtig für antirassistische und queere Kämpfe?
Aktivismus bedeutet mehr als nur Plena und Demos. Politische Bewegungen leben davon, dass Menschen sich Gehör verschaffen und ihre Interessen verbinden. Dafür brauchen wir Räume, in denen Menschen sprechfähig werden. Im Sammelband kommen Beispiele von Räumen vor, die sowohl kulturell als auch politisch waren, auch wenn sie sich nicht immer so beschreiben. Ich denke da an Zezé Soares, eine Schwarze Travestiekünstlerin, oder an Räume wie den Salon Oriental, heute Teil von Gayhane im SO36 in Berlin, und an die Black Girls Coalition im Samariterkiez in Friedrichshain. Diese Orte ermöglichten es, sich zu verbinden und Erfahrungen von Rassismus und Queerfeindlichkeit zu verarbeiten. Sie produzierten Kultur aus ihren Lebenserfahrungen und schufen Gemeinschaften und Beratungsangebote.
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Gibt es Geschichten, die Sie bewusst nicht aufgenommen haben?
Ich erzähle Geschichten von Menschen, die sich emanzipiert und gegenseitig gestärkt haben. Ich erzähle nicht den weißen Blick.
Was war Ihr Highlight bei der Arbeit am Buch?
Mein Highlight war der Aufbau tragfähiger Beziehungen durch diese Arbeit. In Zeiten, in denen rechtsextreme Parteien an Macht gewinnen, brauchen wir diese Beziehungen zueinander, um gemeinsame Sozialräume zu schaffen und widerständiges Wissen weiterzugeben.
Was verstehen Sie unter »widerständigem Wissen«?
Es ist das Wissen über Kämpfe und die Erinnerung an Biografien und Lebenserfahrungen, die sich den gesellschaftlichen Gegensätzen widersetzt haben. Es umfasst auch die kritische Analyse von Institutionen und die Entwicklung politischer Praktiken. Hier sind es auch Biografien, die sich der Gegenüberstellung von Queers vs. Migrant*innen widersetzen.
Ist der Sammelband für Sie primär queer oder antirassistisch?
Diese Gegenüberstellung ist problematisch und resultiert aus gesellschaftlichen Strukturen, die soziale Fragen gegeneinander ausspielen. Einige Beiträge im Buch befassen sich damit, warum es heute oft so erscheint, als stünden queere und migrantisch-antirassistische Belange im Widerspruch zueinander. Ich setze hier die Arbeit vieler vor mir fort, wie etwa Koray Yılmaz-Günay, Jin Haritaworn, Fatima El-Tayeb und Peggy Piesche.
Welche Muster erkennen Sie in den heutigen Diskussionen über Migration und Queerness?
Viele Dokumente in meinem Buch könnten heute fast wortwörtlich wieder abgedruckt werden. Die Schwule Internationale von 1991 entstand als Gegenwehr gegen die Verbürgerlichung schwuler und lesbischer Organisationen, die rassistische Grenzen zogen. Sie thematisierte, wer zwischen Queerness und Antirassismus wählen muss. Damals wie heute sehen wir ähnliche Ausschlüsse, etwa beim Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (Geas) oder der Reform des Selbstbestimmungsgesetzes, die Menschen im Asylprozess und unter subsidiärem Schutz explizit ausschließt und die Namensnachverfolgung durch die Polizei ermöglicht. Das trifft migrantische Communitys hart. Das heutige Geas erinnert an den Asylkompromiss von 1993. Rechte Gewalt tobt auf den Straßen, und Asylrechtsverschärfungen werden als Antwort verabschiedet. Das wiederholt sich als Regulationsmechanismus.
Warum sind migrantische Erinnerungskulturen wichtig?
Das Buch »Farbe bekennen« von Katharina Oguntoye, May Ayim und Dagmar Schultz zeigt, dass Schwarze Geschichte weit vor 1945 begann. Migration war immer Teil von Deutschland, ebenso die Kämpfe um Anerkennung. Mein Projekt knüpft genau an diesem Punkt an.
Sie sprechen in der Einleitung über die Bedeutung von Kämpfen, die »vor uns, mit uns und nach uns« geführt werden. Was meinen Sie damit?
Archivierung ist ein politisches Werkzeug. Ich bin in sozialistischen und gewerkschaftsnahen Kreisen aufgewachsen, wo Lieder und erzählte Geschichten aus Kämpfen und politischen Praxen, die teils Jahrhunderte alt sind, als Bezugspunkte für die Zukunft dienen. Mein Projekt schafft auch ein Archiv für eine Bewegung, damit aus vergangenen Kämpfen für zukünftige gelernt werden kann. Es liegt an der nächsten Generation, das weiterzuführen. Außerdem lassen sich gedruckte Zeilen nicht so schnell löschen.
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