- Kultur
- Nachruf auf Jürgen Becker
Nichts los. Wie spannend!
Ums Innenleben wird ein Zaun gerollt: Zum Tod des Journal-Dichters Jürgen Becker
Ein Erzähler nimmt sich zweihundert Seiten vor. Zwei mal hundert Seiten – Leere. Täglich schreibt er Beobachtungen, Eingebungen auf. Einzelne Sätze nur. Die Seiten füllen sich. Zum Beispiel mit Vorstellungen, was man tun könnte. Mit Überlegungen, was am besten zu unterlassen sei. Im Garten sind unbekannte Katzen aufgetaucht. Am Telefonat, das von einem Inseldorf kommt, sind die Hintergrundgeräusche interessant. Oder: Betörend, so eine Ansichtskarte aus dem heißen Griechenland, jetzt, mitten im überraschenden Wintereinbruch. Und oben im Haus der Specht, der gibt den alten Zimmerbalken den Rest. Die Schallplatte »Sing Nachtigall sing« reizt zu der netten Frage, was Onkel Heinz wohl im Krieg gemacht hat. Das laute Lachen aus dem Nachbarhaus – wissen die nicht Bescheid, wie es um die Welt bestellt ist? Der Erzähler geht sein Adressenverzeichnis durch – die Arbeit endet unweigerlich bei erheblichen Streichungen.
Solcher Art Lakonik ist das Notat dessen, was geschieht. Wahrnehmung steht neben Wahrnehmung. Manchmal kommt es fast zu einer kleinen Geschichte. Fast. »Mit Blaulicht rast der Notarzt in den Ort. Die alten Nachbarn sehen sich an. Keiner fehlt. Alle noch am Tresen.« Jürgen Beckers Journalgeschichten »Die folgenden Seiten« stehen für das Gesamtwerk: jenes Kaleidoskop des Flüchtigen, das wir tagtäglich leben, und das doch in seiner geringen Bedeutung das große Unbezwingbare aller Existenz ausmacht.
»Nachrichten, Tennisplätze/ lenkten uns ab, und wieder entstand eine Täuschung,/ eine vom Zufall hinterlassene Spur.« Eine Gedichtzeile von Becker, sein Schreiben war stets der schwermütige Versuch, jene laufenden Ereignisse, die ständig Information werden, wieder zu verrätseln. Er war nie jemand, der handfeste Storys schrieb. Der Dichter aus dem rheinischen Odenthal überführt in seiner Literatur addierte Einzelheiten in einen Bewusstseinsstrom, der aus dem Unbestimmten ins Absichtsvolle wechselt, ohne die Reize seines Vagabundierens zu verlieren.
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Der 1932 geborene Autor reflektiert in seinen Büchern Anwesenheit in einem endlosen Raum, einem endlosen Roman; seine Notizen sind Konzentrationen aufs Vorhandene, dessen Zufalls-Charakter sanft und inständig der Belanglosigkeit enthoben wird. Wirklichkeit war für Becker das, was langsam verschwindet, aber an den Rändern noch erkennbar bleibt – »Ränder« hieß ein Buch, das vor vierzig Jahren erschien, und Peter Handke hat vom »Grundzug eines zögernden Umreißens« gesprochen. »Bilder schieben sich durchs Zimmer, die in der Dunkelheit rasch wieder verschwinden. Es sind Bilder aus einem Leben, das uns vor Augen führt, wie unser Leben hätte sein können.«
Auch die Lyrik (»Foxtrott im Erfurter Stadion«, »Journal der Wiederholungen«) erzählt von sinnbesetzter Vergeblichkeit. Sie wird erfasst in Splittern, in Warteschleifen von Satz zu Satz. Sein Langgedicht »Graugänse über Toronto« nennt sich ebenfalls »Journal«. Das erinnert bewusst ans Unliterarische, es hat etwas von Zeitung und ist also eine Einladung zum Blättern. »Der Spiegel/ im Flur verändert nichts; er zeigt nur, was du/ nicht wahrhaben willst.« Die langsame Verwitterung. Das Einerlei. Man ist »unterwegs, ohne sich zu bewegen«. Gut gesehen – das beweist doch nahezu jeder Tag, an dem wir uns abjapsen. Was war denn gestern? Vielleicht war es besser? Hatten wir damals vielleicht noch mehr von dem, was uns eigen ist? Oder hat das Eigene erst im Alter Ausdrucksgelegenheit und -form gefunden?
Die Prosa und Poesie Beckers ist Hinwendung zu all dem Deutschen des 20. Jahrhunderts. »Alles im Eimer,/ sagte der Fähnleinführer und haute ab./ Sah ihn wieder im Blauhemd der FDJ.« Die ewige Zweiteilung der Menschen: »der eine stellt die Kerzen/ ins Fenster, der andere schießt zurück.« Der unbesiegliche Zynismus des Gleichzeitigen: »das Mittelmeer können wir buchen, die Küstenwache/ kümmert sich um die Leichen«. Der genaue diagnostische Blick, mitunter angebracht verächtlich: »die Wut der Leserbriefe schwillt an, gewetzt/ die Messer im sozialen Netzwerk«.
Dieses 20. Jahrhundert ist wie jedes Jahr und jeder Tag: Hochzeiten von Weh und Wohl. »Geduckt unter Decken hielten wir durch,/ Heimatfrontkinder, bis der Leichenhaufen/ hinterm Stacheldraht uns sagte, dass wir allesamt/ Verbrecherskinder sind. Dann klauten wir auch noch/ Konserven und Koks.« Der dichterische Rückblick offenbart eine Philosophie des Praktischen: Am besten ist es in den sogenannten großen Zeiten, auf Erfahrungen des überschaubaren Dorfkreises zu bauen und damit jene – von Utopisten gern geschmähte – Kleinheit des Menschen anzunehmen, die in Wahrheit eine große Überstehenskraft sein kann. Kleinheit in Schönheit? Ja, Schönheit aus Nebelschwade und Krähenflug, Birnbäumen und Spechthämmern. »Google weiß mehr, aber/ nicht alles. Schon gar nicht, wo unterm Scheunendach/ der Marder sitzt.«
Wir leben Bruchstücke – und Becker schreibt gegen die Illusion, die Leerstellen zwischen diesen Bruchstücken seien voll Spannung. Sie sind es nicht, aber just dies Unspannende will als Erregungsimpuls erfahren werden, denn: Mehr war und ist uns nicht gegeben. Dies zu tragen, ist das Schwierige. Provinz, der Kern aller Welt. Nur immer wieder im Detail ist zu erforschen, inwieweit Menschen Ausdruck von Zeitbedingungen sind, inwiefern sie auf diese Weise Möglichkeiten von Leben entdecken, aber zugleich auch um viele Möglichkeiten gebracht werden. Und sie sich selber mit Blindheit schlagen: »Ums Innenleben wird ein Zaun gerollt.« Samuel Beckett hat es in den bodenlosen Satz gefasst: »Wie erträglich das alles ist, mein Gott.«
Stets im Blick: Beckers eigene Biografie. Die ostwestdeutsche Zeit nach dem Krieg. Umzug von Köln nach Thüringen und zurück. Bauernjungs auf den Schulbänken; wegen der Kleidernot trugen sie ihre alten Jungvolk-Uniformen. Die Abneigung gegen Schiefertafeln. Daheim die Regale voller Einmachgläser. Der Romantikhauch der Dachkammer. Bombenfunde und Spiel mit Granatsplittern. Warum ging man, »weg von den Sowjets«, wieder in den Westen? Ein früher Abwehrreflex gegen das ostdeutsche »Angebot«, sich vergesellschaften zu lassen. Damit verbunden der Gedanke an Orte, an denen »ein Leben im Abseits« ungestraft möglich ist. Als könne man sich auf der Welt einrichten »in einer Art Zurückgezogenheit, die einen vom Mitmachen fernhält«. Deutsche Erfahrung peinigt: Ein Verwandter konnte sich nicht fernhalten vom Druck der Zeit, ein Kriegstraumatisierter – »als er später von der Brücke sprang, hieß es, komisch war er schon immer, der Fritz«.
Beckers Bücher (»Die Türe zum Meer«, »Felder«, »Schnee in den Ardennen«, »Wie es weiterging«) fabulieren feinfühlig mit am großen Danach, das aufs 19. Jahrhundert des Romans folgte. Jemand hat des Dichters abwartendes Schauen mit den frühen Filmen von Wim Wenders verglichen. »Dahinten, da soll was los sein.« Nur so ein Satz. Allein steht er da, dieser Satz, und wir kennen ihn, wir kennen diese Art von Erwartung, aber der Satz sagt in Wahrheit: Nichts ist los, und nie wird was los sein. Es ist der erregende Roman unseres Lebens.
Nun ist der Dichter, 2014 bekam er den Georg-Büchner-Preis, im Alter von 92 Jahren gestorben.
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