Thomas Mann: Nach dem Abgrund ist vor dem Abgrund

Vor 100 Jahren erschien Thomas Manns »Der Zauberberg«. Was hat er uns heute noch zu sagen?

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.
Wer einmal abstürzt, kommt nicht wieder.
Wer einmal abstürzt, kommt nicht wieder.

Dies sind 1000 Seiten über die Zeit, doch jener Zeit, so Thomas Mann, »die nicht von der Art der Bahnhofsuhren ist«. Aber wenn nicht dieser, welcher Art dann? Wir wissen, dass die ersten öffentlichen Uhren jene an Kirchtürmen waren; aber die gingen oft falsch, und so hatte im Mittelalter jede Stadt, jedes Dorf eine eigene Zeit, was niemandem groß auffiel.

Das änderte sich erst im 19. Jahrhundert mit der Eisenbahn, denn sie fuhr von Ort zu Ort – und da war es von Vorteil, wenn die Uhren überall auf die Minute genau die gleiche Zeit anzeigten. Das war bereits ein zählbarer Fortschritt. Dann kamen im 20. Jahrhundert die Atomuhren, die noch viel exakter waren, und so weiter – dennoch hat man heute häufig den Eindruck, dass die Züge wieder nach irgendwelchen Kirchturmuhren aus vergangenen Jahrhunderten fahren (oder stehen). Da zählen die Minuten gar nicht, die Stunden wenig.

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Kreist die Zeit also, kehren damit längst zurückgelassen geglaubte Zustände wieder? Die fatal-ideologische Rede von der »Zeitenwende« suggeriert, dass wir es sind, die bestimmen können, wie die Uhren ticken. Einer der klügeren, weil klareren Gedanken Martin Heideggers war der von der »Zeitkehre«. Da dreht nicht jemand einfach – größenwahnsinnig, eroberungsbesoffen – an der Uhr, sondern die Zeit selbst kehrt sich um: Plötzlich geht es zurück, statt vorwärts.

Dieses Gefühl des Rückschritts, einem Entsetzen nicht unähnlich, haben heute viele. Waren wir darüber nicht schon längst hinaus? Nein, offensichtlich nicht, oder es ist etwas zurückgekehrt als Gespenst aus einem längst vergessenen Winkel der Vergangenheit. Ist die Zeit vielleicht gänzlich »aus den Fugen geraten«, wie schon Shakespeare Hamlet mutmaßen lässt?

Darum geht es in »Der Zauberberg«, der vor 100 Jahren erschien. Eine gehobene Gesellschaft, die noch nicht weiß, dass sie bereits von gestern ist, aber es als unbestimmtes Krankheitsgefühl dumpf ahnt, versammelt sich im internationalen Sanatorium »Berghof« in Davos. In der Höhe gehen die Uhren nochmals anders – Dalìs »weichen Uhren« ähnelnd, scheinen sie auf trunkene Weise immer leicht fiebrig. »Man ändert hier seine Begriffe«, lesen wir gleich zu Beginn des Romans.

Das Wort »Neurasthenie« hatte damals Konjunktur, so Meike Rötzer in ihrer groß angelegten Nacherzählung, die sich den Luxus leistet, nicht das Komplizierte zu vereinfachen, sondern dieses überaus plastisch in mündlicher Rede den Zuhörern nahezubringen. Gemeint war eine Mischung aus Depression und Hysterie. Mit dem »Zauberberg«, den sie in ihrem – erst kürzlich gegründeten – Erzählbuchverlag im Programm hat, trat sie soeben im großen Sendesaal im Berliner Haus des Rundfunks mit Sinfonieorchester auf, fast vier Stunden live, samt jener Musik, die auch bei Mann im Kapitel »Fülle des Wohllauts« bestimmend wurde – da aber kam sie vom Grammofon.

Das Kurgastdasein lag offenbar in der Zeit. Hermann Hesse schrieb – ebenfalls vor 100 Jahren – seinen »Kurgast«, ein hinreißendes persönliches Buch darüber, wie ihn eine dringend erwartete Kur statt gesünder nur immer kränker machte. Auch Knut Hamsun verfasste 1923 mit »Das letzte Kapitel« einen Roman über ein Sanatorium – aber bei ihm, der voller Hass auf die bürgerliche Welt war, brennt es ab und die meisten der noblen Gäste sterben in den Flammen. So drastisch will es Thomas Mann nicht sehen – für ihn hat der langsame Untergang, dem Siechtum bei der Tuberkulose ähnlich, durchaus seinen morbiden Charme, den man fast schon eine Erotik des Todes nennen kann. Der quälende Husten verbindet Reiche und Arme.

In der Parallelführung von persönlicher Krankheit und Krankheit der Zeit, die sich vor allem »unten im Tal« zeigt, liegt der doppelte Zugriff Thomas Manns im »Zauberberg«. Aus dem privilegierten Stillstand hier oben führt er uns direkt in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914: Eine Welt im Delirium, die auch Hans Castorp in ihren Taumel, den Totentanz einer alten Welt, hineinreißt. Thomas Mann ruft ihm hinterher: »Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davon kommst.«

Als Thomas Mann 1929 den Literaturnobelpreis erhält, ist er konsterniert, geradezu beleidigt. Nicht ohne Grund, denn er bekommt ihn ausdrücklich für die »Buddenbrooks« von 1901. Ein Preis für ein fast 30 Jahre altes Buch! Und das, wo doch der gerade fünf Jahre alte »Zauberberg« weltweit für Furore sorgt. Das ist die subtile Bosheit von Gremien, auch die des Nobelpreiskomitees.

Die Zeit-Diagnose aus dem neuen Buch fand man also keinesfalls preiswürdig. Meike Rötzer dagegen feiert in ihrer freien Nacherzählung gerade den intellektuell aufregenden Zweikampf des italienischen Humanisten Settembrini mit dem Jesuiten Naphta, den Kampf um die Seele ihres gemeinsamen Zöglings Hans Castorp, der allerdings nicht recht versteht, warum der Streit zwischen seinen beiden Ersatzvätern plötzlich so bitterernst wird – und am Ende in ein Duell und die effektvolle Selbsttötung Naphtas mündet.

Naphta ist eine geradezu dämonische Figur, die quer zu allem Zeitgeist steht und gerade darum in ihrem dramatischen Furor immer noch zu faszinieren vermag. Das Vorbild für Naphta war ausgerechnet Georg Lukács, kein Jesuit natürlich, sondern mit seinem Buch »Geschichte und Klassenbewusstsein« von 1923 soeben zum kommunistischen Parteitheoretiker avanciert. Seine Antithesen zur Zeit haben es in sich. Jeder Reiche sei ein Dieb oder der Sohn eines Diebes, lässt ihn Thomas Mann sagen. Und was sei Freiheit ohne den Gehorsam einem höheren Gesetz gegenüber? Er bringt es auf den höchst gegenwärtigen Punkt: »Freiheit ist ein Problem, keine schöne Geste.«

Man muss es Thomas Mann (der selbst durch seine Ehe mit der aus reicher Familie stammenden Katia Pringsheim finanziell abgesichert war) anrechnen, dass ihm das Überlebensproblem von freien künstlerischen und intellektuellen Existenzen durchaus wichtig war. So lässt er Settembrini aus Geldmangel (bei anhaltender Krankheit) das kostspielige Sanatorium »Berghof« verlassen und privat im Dorf wohnen, genau wie Naphta, während die im »Berghof« verbleibenden Fabrikbesitzer oder Fabrikbesitzerangehörigen mit »feuchter Stelle« auf der Lunge, Jahr um Jahr horrende Summen dem Kurbetrieb in den Rachen werfen. Jene aber, die mit Brecht gesprochen, die eigene Haut tagtäglich zu Markte tragen, bekommen immer weniger dafür. Es droht die Bettlerexistenz, wenn nicht bald eine rettende Erbschaft ins Haus steht oder man noch schnell in irgendeiner Behörde einen Posten ergattert. Reden wir von den 1920er Jahren oder von heute?

Gottfried Benn schrieb 1926 für »Die Weltbühne« in »Summa summarum« über seine Einkünfte aus jener dichterischen Arbeit, für die man ihn als »einen der größten unserer Zeit« bezeichnete. Verglichen mit fest angestellten Schauspielern, Intendanten, Chefredakteuren, Bayreuther Wotan-Sängern oder Bankpräsidenten, die monatlich mehrere Tausende Mark Gehalt bezögen, stünde »einer der größten unserer Zeit mit vier Mark fünfzig im Monat entschieden ungünstig da«. So hatte es Benn akribisch ausgerechnet. Wahrscheinlich auch wegen dieser prekären Umstände diente er sich 1933 den Nazis an, aber diese jagten ihn (zu seinem Glück) postwendend als »entartetes Element« davon.

Was bleibt heute vom »Zauberberg«? Wer umgehend eine »kriegstüchtige« Armee (so der offensive Verteidigungsminister von der SPD Pistorius) will, der hat kein Geld mehr für so entbehrliche Dinge wie Bildung und Kunst. Die unheilvoll aggressive Atmosphäre von Krieg liegt heute wieder in der Luft. Meike Rötzer, die mit ihrem Erzählbuchverlag wenig verdient (fast alles gehe an die Internet-Plattformen, sagt sie), streitet für eine Neubewertung geistiger Leistung. Wenn die nicht erfolgt, dann wird die abschüssige Ebene, auf der wir noch balancieren, sehr schnell zur Steilwand. Wer einmal abgestürzt ist, kommt nicht wieder.

Meike Rötzer erzählt den »Zauberberg«, mit dem Rundfunksinfonieorchester Berlin, am 23. und 30.11. (in zwei Teilen) auf Radio 3 des RBB. Nachzuhören auch in der ARD-Audiothek.

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