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»Wir dürfen niemals irgendeine Klientel aufgeben«

Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, spricht über Strategien gegen Demokratieverdrossenheit

Zuschauer bei einer AfD-Kundgebung in Haldensleben, auf der auch der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke spricht.
Zuschauer bei einer AfD-Kundgebung in Haldensleben, auf der auch der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke spricht.

Herr Krüger, wir haben jetzt drei Landtagswahlen in Ostdeutschland hinter uns, bei denen die AfD auf jeweils etwa ein Drittel der Wählerstimmen gekommen ist – und bei denen das populistisch agierende Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) auch eine große Zustimmung erfahren hat. Was ist aus Ihrer Sicht los im Osten?

Ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger, die Wählerinnen und Wähler im Osten Deutschlands sehr frustriert sind, weil sie sich politisch nicht gesehen fühlen. Dagegen wäre ich vorsichtig, allen Wählern einer bestimmten Partei zu unterstellen, sich wirklich mit ihr und ihren politischen Zielen identifizieren. Das ist auch bei der AfD beziehungsweise dem BSW und deren Wählerinnen und Wählern nicht so. Es gibt natürlich immer einen Teil, der die ideologischen Positionen der Parteien teilt, für er stimmt. Aber es gibt auch einen anderen Teil, der sein Votum als Zeichen von Protest versteht, als Zeichen dafür, dass die Menschen sich als Bürger zweiter Klasse im eigenen Land fühlen.

Sie halten also einen Teil der AfD- und BSW-Wähler für Protestwähler. Wie groß ist denn dieser Teil?

Das kann man schlecht genau abschätzen. Aber ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben, wie volatil Wahlentscheidungen sein können: Bei der Bundestagswahl 2021 haben die Grünen und die FDP bei jungen Wählerinnen und Wählern besonders gut abgeschnitten. Das Gegenteil war nun bei den jüngsten Europawahlen der Fall. Das heißt, die jungen Menschen waren enttäuscht von dem, was ihnen von Grünen und FDP geliefert worden ist und haben dann ganz andere Parteien gewählt; übrigens keineswegs nur rechte Parteien. Etwa 28 Prozent der Erstwählenden bei der Europawahl haben sich für Kleinstparteien wie Volt entschieden. Diese Partei ist noch viel europafreundlicher als die klassisch-demokratischen Parteien.

Trotzdem gibt es einen zunehmenden Teil von politischen Beobachtern, die mit Blick auf die AfD sagen, dass die Mehrzahl von deren Wählern inzwischen aus Überzeugung für diese Partei stimmt. Die Autorin Annika Brockschmidt hat neulich in einem Interview erklärt, die Sache mit den Protestwählern »lässt zwar nachts besser schlafen, ist aber vor allem eins: ein Mythos«.

Unstrittig ist ja, dass die AfD in den vergangenen Jahren immer mehr Wähler für sich gewinnen konnte. Dabei hat die Partei stark von Menschen profitiert, die in den Jahren davor gar nicht wählen waren. Trotzdem scheint mir die These, die Sie zitiert haben, zu einfach zu sein. Ja, die AfD hat wie alle rechtsextremen oder rechtspopulistischen Parteien eine überzeugte Stammwählerschaft. Trotzdem bekommt sie auch Stimmen von Menschen, die eher volatil wählen.

Interview

Fast überall im geopolitischen Westen feiern Rechtsextremisten einen Wahlsieg nach dem anderen. Parteien, die mit populistischen Methoden Stimmung machen, sind derzeit ziemlich erfolgreich. Das hat auch damit zu tun, dass es bei vielen Menschen an politischem Hintergrundwissen fehlt. Fast scheint es, dass politische Bildung gegen den Frust nicht mehr ankommt, der durch die sozialen Medien verstärkt wird. Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, erläutert im Interview, wie er enttäuschte Protestwähler und die radikale Rechte mit Angeboten erreichen will.

Sie glauben also, dass andere Parteien einen Teil der AfD-Wähler noch immer erreichen können?

Die Mitte-Studien zeigen schon lange, dass 20 bis 25 Prozent der Menschen in Deutschland zumindest einzelne Einstellungen haben, die sich kaum mit dem Wertekanon des Grundgesetzes in Einklang bringen lassen. Nur gab es eben bislang einen gravierenden Unterschied: Bisher haben die klassischen, demokratischen Parteien diese Klientel domestiziert. Das heißt, wenn man früher Leute, die antisemitische oder rassistische Einstellungen vertreten, gefragt hat, was sie wählen, dann haben sie vor allem CDU oder SPD gesagt. Die Situation heute ist eine völlig andere. In die Lücke, die Volksparteien hinterlassen haben, ist die AfD erfolgreich eingedrungen. Sie hat sich als Radikalisierungskollektiv für diejenigen 20 bis 25 Prozent der Menschen in Deutschland etabliert, über die in den Mitte-Studien und anderen, ähnlichen Erhebungen schon viel geschrieben worden ist.

Dieser Befund muss Sie doch ebenso erschüttern wie das Ergebnis der jüngsten Landtagswahlen. Denn das alles zeigt doch, dass es die politische Bildung in Deutschland nicht vermag, einem erheblichen Teil der Bevölkerung klarzumachen, wie Demokratie funktioniert und auf welchem Wertefundament sie steht.

Die Wahlergebnisse im Osten waren für mich ein Schock, keine Frage, wenngleich damit zu rechnen war. Aber in der politischen Bildung muss man sowieso immer demütig sein. Wir sind in der Situation von Sisyphus: Wir müssen den Stein immer wieder den Berg hinaufrollen, der ständig wieder herunterrollt. Aber nicht, weil die politische Bildung per se schlecht oder erfolglos wäre, sondern weil politische Bildung nicht verwechselt werden darf mit Politik. Ich würde sagen, der wichtigste Punkt für die derzeitige Situation sind politische Entscheidungen oder Nichtentscheidungen. Politische Bildung ist wichtig als Reflexionsangebot, als ein Selbstbildungsangebot für die Bürgerinnen und Bürger, sich der Demokratie und demokratischer Verfahrensweisen zu vergewissern. Aber politische Bildung ersetzt niemals Politik.

Das erwartet doch auch niemand. Der Anspruch sollte aber sein, dass politische Bildung den Menschen den Politikbetrieb erklärt und ihnen zeigt, wie langwierig demokratische Entscheidungsprozesse sind und dass dabei am Ende häufig Kompromisse stehen. Weil dieses Verständnis viele Menschen nicht haben, sind sie gefrustet.

Also, wenn Sie sich angucken, was wir tagtäglich machen, dann ist es genau das: Wir erklären ständig die Verfahren im politischen Bereich. Und wir arbeiten mit partizipativen Formaten, um Menschen mitzunehmen und für sie nachvollziehbar zu machen, wie langwierig Demokratie oft ist.

Nur tun Sie das offenbar nicht sehr erfolgreich, oder?

Sehen Sie, politische Bildung ist nicht so, dass man die wie bei einem Nürnberger Trichter oben etwa hineintut und unten kommt dann ein demokratisches Votum raus. Menschen sind Menschen, bei denen für ihr Verhalten und ihre Entscheidungen unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen. Das sind emotionale Fragen ebenso wie die Fragen des Gesehenwerdens. Politische Bildung kann immer nur einen Teil davon bearbeiten und reflektieren.

Warum brauchen wir dann politische Bildung überhaupt noch?

Wenn Sie sich mal ansehen, wo die deutsche Gesellschaft heute steht, dann würde ich die Berechtigung dieser Frage deutlich relativieren wollen. Wir sind ja nicht komplett erfolglos. Im Gegenteil: Wir sind erfolgreich in einem großen Teil der Bevölkerung. Es ist falsch, immer nur auf die 20 Prozent zu schauen, die mit der Demokratie und den Werten des Grundgesetzes hadern. Wir dürfen die anderen 80 Prozent nicht vergessen, und das tun wir auch nicht, ohne aber auf die Defizite der politischen Bildung hinzuweisen, die es natürlich gibt. Das will ich doch gar nicht wegdiskutieren. Wenn Sie sich alleine anschauen, welche Defizite es in den Schulen gibt, wo Fächer wie Sozialkunde häufig fachfremd unterrichtet werden …

Haben Sie denn im Lichte der drei Ost-Wahlen Ihre eigenen Strategien und Arbeitsweisen kritisch hinterfragt?

Natürlich. Das meine ich ja damit, wenn ich sage, dass man in der politischen Bildung demütig sein muss, sich ständig fragen muss, ob die gewählten Strategien funktionieren oder ob man neue Wege beschreiten muss. Diese Selbstreflexion ist bei uns ständiger Teil der Arbeit, wir machen das schon seit Jahrzehnten, nicht erst seit den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Ein Ergebnis ist zum Beispiel, dass wir einen Bereich Social Media aufgebaut haben, noch bevor die politischen Parteien in Deutschland in diesem Feld unterwegs waren. Aktuell versuchen wir, über Influencer unsere Reichweite dort zu erhöhen, weil wir ja alle wissen, dass die Algorithmen der sozialen Netzwerke vor allem Hass und Hetze belohnen und eben keine Erklärvideos und Hintergrundinformationen. Ein zweites Beispiel: Wir versuchen im Bereich von Computerspielen schon länger an eine Klientel heranzukommen, die für die politische Bildung bisher als kaum zu erreichen galt.

Sie glauben, dass ein Teil der AfD-Wähler noch für andere Parteien erreichbar ist. Halten Sie diesen Teil auch für politische Bildung zugänglich?

Wir dürfen niemals irgendeine Klientel, egal welche, ganz aufgeben, auch wenn es natürlich leichter ist, Menschen zu erreichen, die nicht bereits im Sinne der AfD ideologisch gefestigt sind. Denn politische Bildung, um das mal ganz deutlich zu sagen, ist eben nicht neutral gegenüber rassistischen und homophoben Positionen. Politische Bildung fühlt sich dem Grundgesetz verpflichtet und praktiziert diese Verpflichtung auch. Das Grundgesetz bildet die roten Linien in unserer Arbeit ab.

Mit welchen neuen Strategien also wollen Sie Menschen in den nächsten Jahren erreichen?

Was die drei ostdeutschen Landtagswahlen deutlich machen, ist, wie stark die AfD im ländlichen Raum verankert ist. Deshalb werden wir versuchen, Ressourcen umzuschichten und noch stärker als zuletzt in den ländlichen Raum zu gehen. So wollen wir Ressourcen freimachen, um an eine Klientel heranzukommen, die wir bisher offenbar nicht hinreichend erreicht haben. Aber noch mal, das ist mir ganz wichtig: Wenn sich bestimmte politische Rahmenbedingungen in Deutschland nicht ändern, dann können wir politische Bildung bis zum Kreislaufkollaps machen, ohne große Erfolge vorweisen zu können. Es ist wichtig, politische Bildung als Teil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu verstehen und nicht als Komplettersatz für Politik.

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