Gewaltiger Auftritt

Eine Ausstellung in Berlin zeigt Puppen-Installationen von Gisèle Vienne, eine weitere setzt ihr Werk in seinen kunstgeschichtlichen Kontext

  • Geraldine Spiekermann
  • Lesedauer: 4 Min.
Gisèle Vienne, Series PORTRAITS 44/63, 2024
Gisèle Vienne, Series PORTRAITS 44/63, 2024

Im Eingang auf einem hohen weißen Sockel sitzt ein Mädchen mit langem Haar mit dem Rücken zu uns. Links von ihr ein fast leerer Raum mit weichem weißem Teppich, den man betreten möchte, doch das ist nicht erlaubt. Nur auf große Distanz kann man eine verstörende Installation mit lebensgroßen Puppen erspähen. Sie alle sind Teenager, individuell gekleidet mit Hoodies, Jeans oder T-Shirts, so wie das Mädchen im Eingang.

In der Romantik lädt die Rückenfigur dazu ein, sich mit ihr zu identifizieren und in die erhabene Landschaft zu schauen. Blicken wir in den großen Saal direkt vor uns, so sind raumfüllend Vitrinen im immer gleichen Abstand direkt nebeneinander auf dem Boden aufgereiht. Darin, stets auf dem Rücken liegend und die Hände zu beiden Seiten ausgestreckt, zahllose Teenager mit leblosen Augen.

Die Einzelausstellung im Haus am Waldsee »Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play« (So zerbricht das Bewusstsein – Ein Puppenspiel) bricht gleich zu Beginn mit der Erwartungshaltung der Besuchenden. Denn um die Puppen spielen zu lassen, müsste erst jeder einzelne Schneewittchensarg zerbrochen werden. Vielleicht spielt Gisèle Vienne (* 1976) mit dem Titel auch auf die fotografische Serie »Die Spiele der Puppe« des Surrealisten Hans Bellmer an. Seine erotisch inszenierten Puppen trugen trotz ihrer Nacktheit stets weiße Söckchen und schwarze Spangenschuhe, so wie die Mädchen Viennes, deren Füße untrennbar mit modellierten Mary Janes verbunden sind.

Der erste Teil des englischen Titels ist ebenfalls ein Zitat. Vienne bezieht sich auf einen Track der italienischen Musikerin Caterina Barbieri. Er ist Teil ihres 2017 aufgenommenen Albums »Patterns of Consciousness« (Bewusstseinsstrukturen) und zitiert wiederum einen Aufsatz des Psychologen Bernard Rimé. Dieser interessierte sich für die Rolle von Emotionen in unserer Wahrnehmung. Bei Vienne sind es vor allem die Wut und die Widerständigkeit junger Erwachsener gegen strukturelle und institutionelle Gewalt. Das jugendliche Aufbegehren gegen die Übermacht autoritärer Kräfte wird häufig als vorübergehende pubertäre Phase abgetan und abgewertet. Bereits im Alter von elf Jahren ist Vienne diese Abwertung bewusst geworden. Sie begann daraufhin, gemeinsam mit ihrer Mutter eigene Puppen zu bauen.

Dorothéa Vienne-Pollak ist eine Schülerin Oskar Kokoschkas, dessen gescheiterte Affäre mit Alma Mahler einst in dem Wunsch gipfelte, eine lebensgroße Puppe der Geliebten zu besitzen. Die Puppenmacherin Hermine Moos erfüllte seine Bitte, doch er war maßlos enttäuscht. Ein Fest zu Ehren der Doppelgängerin endete desaströs: Kokoschka übergoss sie mit Rotwein und warf sie mit abgerissenem Kopf in den Garten, wo entsetzte Nachbarn am nächsten Morgen eine blutige Frauenleiche zu entdecken glaubten.

Kokoschka suchte in der Puppe ein fügsames und stets verfügbares weibliches Wesen, so wie der antike Bildhauer Pygmalion sich angewidert von den lebenden Frauen abwandte und sich ein marmornes Modell der idealen Frau erschuf. Die Puppe ist also weniger ein Ersatz als vielmehr ein Modell für die ideale Weiblichkeit. Auch die Kinderpuppe ist mehr als nur ein unschuldiges Spielzeug: An ihr soll das Kind lernen, wie es sich später zu verhalten hat, um sich den Normen der Gesellschaft anzupassen. Vienne zeigt bereits früh mit ihren ersten eigenen Puppen, dass sie keinem von außen vorgegebenen Modell Folge leisten will.

Heute arbeitet Vienne als Theaterregisseurin und Choreografin, aber auch als bildende Künstlerin und Filmemacherin und inszeniert Menschen- und Puppenkörper an den unterschiedlichsten Orten. Um dieser Komplexität genügend Raum zu geben, ist im Georg-Kolbe-Museum zeitgleich eine weitere Ausstellung zu sehen: »Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde«.

Historische Puppen von Lotte Pritzel und Sophie Taeuber-Arp, Filmausschnitte der Tänze Valeska Gerts und Josephine Bakers sowie Fotografien von Claude Cahun und Hermine Moos werden mit Viennes zeitgenössischen Arbeiten in Relation gesetzt. Hier stehen unangepasste moderne Frauen im Vordergrund, die das Rollenbild ihrer Zeit sprengten. Extra für die Ausstellung erstellte Vienne den Film »Kerstin Kraus«.

Die Künstlerin reflektiert mit den Puppen doppelsinnig im Ausstellungsraum, im Film und auf der Bühne in den Sophiensælen – wo Viennes abendfüllende Performance »Crowd« in der vergangenen Woche viermal gezeigt wurde – auf verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung über den soziokulturell zugerichteten Körper und die Brüche in der Gesellschaft, über familiären wie institutionellen Missbrauch und strukturelle Gewalt. Sie geht damit bis an die Grenzen des Darstellbaren und Erträglichen. Dieses extreme Engagement verdient einen großen Auftritt.

»Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play«, bis 12. Januar, Haus am Waldsee, Berlin.
»Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde«, bis 9. März, Georg-Kolbe-Museum, Berlin.

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