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Die Grenzen der Autonomie

Wer war Friedrich W. J. Schelling – und was macht das Werk des idealistischen Philosophen so besonders? Ein Porträt zum 250. Geburtstag

  • Max Hauer
  • Lesedauer: 13 Min.
Der »Wanderer am Weltenrand«: ein Holzstich ungeklärten Datums, der für Aufklärer wie Schelling nur noch als Metapher fungieren kann
Der »Wanderer am Weltenrand«: ein Holzstich ungeklärten Datums, der für Aufklärer wie Schelling nur noch als Metapher fungieren kann

In diesen Tagen jährt sich der Geburtstag des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zum 250. Mal. Doch ein großes Spektakel wie etwa zum Lutherjahr 2017, zum 200. Geburtstag von Karl Marx 2018 oder zu Kafkas 100. Todestag 2024 zeichnet sich für das »Schelling-Jahr« 2025 nicht ab. Das Jubiläumsprogramm seiner Geburtsstadt Leonberg ist mit sieben Veranstaltungen übersichtlich, die Formate sind gediegen: Im Mittelpunkt stehen Festvorträge und Fachtagungen, dazu kommen zwei Stadtspaziergänge und eine szenische Lesung in der Stadtkirche. Für eine Wiederauferstehung als philosophischer Popstar wird das kaum genügen.

Schelling wird heute in einer Reihe mit Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel als Hauptvertreter des sogenannten Deutschen Idealismus gewürdigt. Doch während sein Name recht geläufig ist, verbinden nur wenige klare Vorstellungen mit seinem philosophischen Werk. Das mag daran liegen, dass Schelling, anders als Kant, keine bündige Merkformel wie den »Kategorischen Imperativ« hinterlassen hat. Er schrieb keine leichtfüßigen Essays wie »Was ist Aufklärung?«, begeisterte sein Zeitalter aber anders als Fichte auch nicht mit patriotischen »Reden an die deutsche Nation«. Zwar regte Schelling nachweislich viele Gemüter an, doch hinterließ er im Unterschied zu Hegel keine Schule, die sich nach seinem Tod publikumswirksam über sein Erbe hätte zerstreiten können.

Bereits seine Zeitgenossen verliehen Schelling den Beinamen »Proteus der Philosophie«. Der gleichnamige Meeresgott aus der griechischen Mythologie gilt als Gestaltwandler. Tatsächlich legte Schelling eine außergewöhnliche Wandlungsfähigkeit an den Tag. Hegel bemerkte in seinen »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« später, Schelling habe »seine philosophische Ausbildung vor dem Publikum gemacht« und sich vor den Augen der Öffentlichkeit immer wieder gehäutet, statt auf einem einmal gefestigten Grundstein sein Werk zu errichten.

Während der ersten zwei Jahrzehnte seiner über ein halbes Jahrhundert gestreckten Schaffenszeit legte Schelling eine überbordende Produktivität an den Tag. Sie manifestierte sich in immer neuen »Ideen« und »Ersten Entwürfen«, nur um wenige Monate später verschwenderisch über sie hinauszugehen. Dabei experimentierte er mit verschiedenen Darstellungsformen: Neben Systementwürfen und strengen Abhandlungen finden sich Vorlesungszyklen, bissige Polemiken und ästhetisierende Versuche mit typisch romantischen Textformen wie dem erfundenen philosophischen Brief oder Gespräch. Vor allem ab seiner mittleren Werkphase bemühte Schelling vermehrt bildhafte, erzählerische Herangehensweisen. Ein Hauptwerk lässt sich dabei nicht eindeutig benennen. Wichtiger als die stets vorläufigen Schreibprodukte scheint seine fortwährende Arbeit an bestimmten Problemstellungen. Der Schelling-Forscher Xavier Tilliette sprach daher von einer »Philosophie im Werden«.

Revolutionäre Zeiten

Geboren wurde Schelling am 27. Januar 1775 im schwäbischen Leonberg, wo er in einer bildungsbürgerlichen Theologenfamilie aufwuchs. Sein Vater bekleidete hohe Ämter in der evangelischen Landeskirche und hatte sich als Orientalist und Vertreter einer historisch-kritischen Bibelauslegung einen Namen gemacht. Seine Mutter stammte ebenfalls aus der intellektuell prägenden Theologenschicht.

Der junge Schelling erwies sich früh als hochbegabt. Durch eine Sondergenehmigung trat er 1790 bereits im Alter von 15 Jahren in das Tübinger Stift ein, ein angesehenes protestantisches Studienhaus, in dem das Herzogtum Württemberg Nachwuchs für den Schul- und Pfarrdienst ausbildete. Neben Theologie umfasste der Unterricht unter anderem Philosophie, alte Sprachen, Geschichte und Rhetorik. In der Anstalt freundete Schelling sich mit seinen beiden Stubengenossen an, die ebenfalls keine Unbekannten sind: Friedrich Hölderlin und der bereits erwähnte Hegel.

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Schelling stand zu Lebzeiten phasenweise im Zentrum der turbulenten Entwicklungen, die die philosophische Landschaft im deutschsprachigen Raum damals erschütterten. Das entscheidende politische Ereignis während Schellings Studienjahren von 1790 bis 1795 war die Französische Revolution. Im verhältnismäßig liberalen deutschen Südwesten verfolgte man die Ereignisse auch aufgrund der geografischen und kulturellen Nähe des Nachbarlandes besonders aufmerksam. Unter den jungen Stiftlern ging die Begeisterung für die Revolution um. Zeitungen und Nachrichten zirkulierten, man las die sozialkritischen Schriften Jean-Jacques Rousseaus und pflanzte Freiheitsbäume. Schelling soll mit einem Kommilitonen die Marseillaise übersetzt haben und wurde dafür vom Herzog persönlich gerügt, der die Gärung unter den künftigen Funktionseliten seines Staates äußerst ungern sah.

Einige Stiftler reisten sogar nach Frankreich und warfen sich ins Handgemenge. Dies war jedoch eher die Ausnahme. Wie Stathis Kouvelakis in seiner Studie »Philosophy and Revolution« zeigt, wurde die Revolution in der deutschen Intelligenz zwar zunächst enthusiastisch begrüßt, gleichwohl schreckten die meisten vor den Wirren einer plebejischen Massendemokratie zurück. Die politischen Hoffnungen richteten sich hierzulande eher auf den Bereich der Bildung und aufgeklärte Reformen von oben.

Wenn die Französische Revolution unter den Gebildeten dennoch auf große Resonanz stieß, so nicht zuletzt, weil sie mit einer philosophischen Umwälzung zusammenzugehen schien, die sich zur selben Zeit auf der deutschen Seite des Rheins vollzog: Kants sogenannte »Revolution der Denkart«. In Kants Transzendentalphilosophie wird das Subjekt nicht länger von einer vorgefundenen Welt fertiger Objekte passiv bestimmt, sondern konstituiert die Objektwelt vielmehr erst durch die eigene Tätigkeit, indem es dem unbestimmten, unerkennbaren »Ding an sich« eine Form gibt. Statt restlos durch seine natürlichen Triebe oder äußere Einflüsse fremdbestimmt zu werden, soll dieses Subjekt sich ferner das moralische Gesetz seines Handelns selbst geben können. Die französischen Geschehnisse schienen Kants Schlüsselgedanken der Autonomie zu veranschaulichen, indem sie die Regierungsgewalt auf den Willen des Volkes gründeten: Wie in Kants Moralphilosophie ist Selbstgesetzgebung das zentrale Motiv. Die Revolution ist daher als »Geschichtszeichen« (Kant) der Freiheit zu lesen, das von der Möglichkeit der menschlichen Gattung zur Selbstbestimmung zeugt.

Die Naturphilosophie

Gegen Ende seines Studiums ist Schelling zunehmend von Fichtes Versuch fasziniert, die Transzendentalphilosophie weiter zu radikalisieren: Fichte will selbst Kants ichfremdes »Ding an sich« noch als Produkt des Ichs nachweisen und bahnt auf diese Weise den Weg für ein einheitliches idealistisches System.

Nach Schellings Studienabschluss führt ihn eine Hauslehrerstelle zunächst nach Leipzig, wo er Physik, Chemie und Medizin an der Universität hört. In dieser Zeit schreibt er seine ersten beiden Bücher über Naturphilosophie, die 1797/98 erscheinen und ihm einen kometenhaften Aufstieg bescheren. Kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe erkannte in dem naturwissenschaftlich interessierten Schelling einen Seelenverwandten und setzte sich von Weimar aus dafür ein, dass der 23-Jährige an der Universität Jena eine außerordentliche Professur erhält. Dort werden Schellings Vorlesungen zu öffentlichen Ereignissen, die seinen Ruf weit über die Thüringer Kleinstadt hinaustragen, damals ein bedeutendes geistiges Zentrum.

Der Reiz der Naturphilosophie lag für die Zeitgenossen unter anderem darin, dass sie sich der Wirklichkeit zuwandte, statt bei einer formalen Selbstanalyse der Vernunft stehen zu bleiben. Bei aller anschaulichen Lebensfülle bleibt Schellings Naturbegriff jedoch dem Grundgedanken seiner idealistischen Vorgänger verpflichtet: die entscheidende Bedeutung der Tätigkeit für die Konstitution der Erscheinungswelt. Schelling überträgt diese Denkfigur auf die Natur. Diese sei weder eine Ansammlung toter Dinge noch Schöpfung eines überweltlichen Gottes, vielmehr ein schöpferisches Subjekt, das sich selbst – die Welt der Naturobjekte – in einem unbewussten Produktionsprozess stufenweise hervorbringt. Ihr letztes Produkt sei der Mensch, das Selbstbewusstsein: Das autonome Subjekt wird mit einer vorgängigen »Autonomie der Natur« konfrontiert.

Wechselnde Konstellationen

Schellings naturphilosophisches Parallelprojekt führt bald zur Entfremdung von Fichte und schließlich 1801 zum endgültigen Bruch. Während Fichte gezeigt habe, dass das Ich alles ist, komme es ihm darauf an, »umgekehrt zu zeigen, dass alles Wirkliche (die Natur, die Welt der Dinge) Tätigkeit, Leben und Freiheit zum Grund habe … alles Ichheit sei«, fasst Schelling ihren Dissens im Rückblick treffend zusammen. Allerdings steht Schelling nun vor dem Problem, die vom Ich ausgehende Transzendentalphilosophie mit der gegenläufigen Naturphilosophie vermitteln zu müssen. Dies führt ihn auf einen neuen, »identitätsphilosophischen« Systemansatz.

Eine intensive Zusammenarbeit mit Hegel entsteht nach der Ankunft von Schellings Studienfreund in Jena im Jahr 1801. Während Schelling zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Höhepunkt seines Erfolgs angelangt ist, kommt Hegel nach mehreren Hauslehrerstellen als akademisch unbeschriebenes Blatt in die Saalestadt. Mit seiner ersten Schrift über »Die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie« greift er in den öffentlichen Klärungsprozess innerhalb des idealistischen Lagers an Schellings Seite ein. Dessen Beitrag stelle den Durchbruch zu einem objektiven, welthaften Idealismus dar, der die engen Grenzen der subjektiven Ich-Philosophie à la Fichte endgültig durchbrochen habe.

Zwei Jahre lang geben Schelling und Hegel gemeinsam das »Kritische Journal der Philosophie« heraus, dessen einzige Autoren sie zugleich sind. Doch die Beziehung lockert sich, als Schelling 1803 einem Ruf nach Würzburg folgt, und geht schließlich in die Brüche, als Hegel 1807 in der Vorrede seiner »Phänomenologie des Geistes« unmissverständliche Spitzen gegen Schelling und dessen damalige Identitätsphilosophie schießt. Während sich beide ihn ihrer polemischen Verachtung des Skeptizismus, des gesunden Menschenverstands und einer rein im Subjektiven verbleibenden Bewusstseinsphilosophie einig waren, schieden ihre Wege sich für Hegel an der Frage der richtigen Ausgestaltung des idealistischen Systems: Hegel wirft Schelling vor, dessen Einheit nur um den Preis einer Ausklammerung aller Besonderheiten aufzeigen zu können. Stattdessen gehe es darum, den Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit mit seinen mannigfaltigen Bestimmungen, Vermittlungen und Widersprüchen darzustellen, was Hegel fortan ausschließlich für sein eigenes Denken beanspruchen sollte.

Grenzen der Systemphilosophie

Hegels Kritik traf jedoch letztlich eine bereits abgelegte Gestalt des Geistes, da Schelling bereits wieder einmal auf dem Weg zu neuen Ufern war; von diesen Entwicklungen nahm Hegel allerdings auch später kaum noch Notiz. In seinen »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« würdigte er Schellings Natur- und Identitätsphilosophie als letzte Durchgangsmomente einer 2500 Jahre währenden Bemühung des Geistes, für sich selbst durchsichtig zu werden – die schließlich in seinem, Hegels eigenem, System ihr Resultat gefunden habe. Schellings »Freiheitsschrift« von 1809, in der sich dessen neue Denkrichtung das erste Mal deutlich öffentlich aussprach, sei zwar »von tiefer, spekulativer Art; sie steht aber einzeln für sich, in der Philosophie kann nichts Einzelnes entwickelt werden«. Insgesamt fehle Schellings Denken »das Logische … die Notwendigkeit des Fortgangs … die Systematisierung«.

Schelling trägt seine Überlegungen in einer Semantik des Bösen und der Sünde vor, die für heutige Leser*innen befremdlich klingen mag.

Die hier angesprochene Frage der Darstellungsform berührt jedoch nur scheinbar eine Äußerlichkeit. Bei näherem Hinsehen ist sie vom Inhalt nicht zu trennen. Bereits in einer seiner frühesten Veröffentlichungen aus dem Jahre 1795 hatte Schelling mit programmatischer Verve verkündet: »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!« Diese Verpflichtung führte ihn schließlich – nach zahlreichen eigenen Experimenten mit der Form des philosophischen Systems – über die Systemphilosophie hinaus. In einem System, das den Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit aus einem Grundsatz logisch entfaltet, sei für Freiheit kein Platz, stellt Schelling mit Blick auf Baruch Spinoza, Hegel und seine eigenen früheren Versuche kritisch fest. Denn auch der Mensch werde dann lediglich als abhängige Resultante in der Selbstdarstellung Gottes (des Unbedingten) gefasst. Dies schließe die menschliche Möglichkeit aus, wenn auch als vielfältig abhängiges Wesen, so doch selbstständig aus sich selbst zu handeln, selbst einen wirklichen Anfang zu setzen. Nur wenn Ordnung und Fortgang der Dinge nicht durch eherne Notwendigkeit bestimmt und garantiert werden, kann Freiheit in der Welt existieren. Nur dann gibt es Raum für Kontingenz, subjektive Wirkmacht, für das unvordenklich Neue – für Geschichte.

Geschichte und Erfahrung

Aus diesem Grund betont Schelling immer wieder, dass es im Hegel’schen System – allem Anschein zum Trotz – keinen Raum für wirkliche Geschichte gebe. Denn dieses handele nur von einer zeitlosen Bewegung von Begriffen, nicht von »reellen Ereignissen«. Da die Wirklichkeit aufgrund der menschlichen Freiheit offenen Charakter hat, lässt sich eine wirkliche Geschichte aus reellen Ereignissen nicht intellektuell konstruieren. Eine geschichtlich offene Wirklichkeit lässt sich nicht abschließend auf den Begriff bringen, auch wenn die idealistische Systemphilosophie diesen Anschein erwecken möchte: Sie »lässt weder der Welt noch dem menschlichen Individuum eine wahre Zukunft übrig«. Diese Zukunft ist nicht vorherbestimmt. Es gibt keine objektiven Gesetze, die einen Fortschritt in der Geschichte garantieren. Die Freiheit enthält die Möglichkeiten des Scheiterns und der »Katastrophe« in sich.

Der selbstherrliche »Denkmechanismus« der Vernunft kommt angesichts der menschlichen Freiheit an eine Grenze. Daher muss die Philosophie geschichtliches, das heißt »der Erfahrung nachdenkendes Denken« werden. Schelling hatte die Entwicklung der Systemphilosophie selbst eineinhalb Jahrzehnte lang maßgeblich vorangetrieben – nur um dann zu einem ihrer hellsichtigsten Kritiker zu werden. Dies machte ihn später zu einem wichtigen Stichwortgeber des Existenzialismus und anderer Versuche, über den Hegel’schen Idealismus hinauszugehen.

Marxistische Rezeptionslinien

Dem offiziellen Marxismus galt Schelling lange Zeit als unzuverlässig. Das entsprechende Schema der Rezeption findet sich in einem Brief von Karl Marx an Ludwig Feuerbach vom Oktober 1843. Verdienstvoll sei zunächst, so Marx, dass Schelling »an die Stelle des abstrakten Gedankens den Gedanken mit Fleisch und Blut (…) an die Stelle der Fachphilosophie die Weltphilosophie gesetzt« habe. Mehr noch, der von Marx hoch verehrte Briefpartner sei durch seinen anthropologisch-materialistischen Ansatz der »umgekehrte Schelling«, so wie dieser umgekehrt ein »antizipiertes Zerrbild« Feuerbachs. Doch diese Wertschätzung soll nur für Schellings naturphilosophische Frühwerk gelten – seinen »aufrichtigen Jugendgedanken« –, während die spätere Freiheitsphilosophie als theoretisch bedeutungslos und politisch reaktionär gebrandmarkt wird. Auch Friedrich Engels würdigt die Naturphilosophie ab den 1870er Jahren in seinem Buchprojekt »Dialektik der Natur« als Meilenstein für die Herausbildung eines materialistischen Weltbildes und fand darin im 20. Jahrhundert einen – poetischer gestimmten – Nachfolger in Ernst Bloch.

Georg Lukács, ein anderer Vertreter des westlichen Marxismus, spitzte dagegen die politischen Verdächtigungen gegen Schelling vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus weiter zu. In seiner Studie über die geistesgeschichtlichen Ursprünge der modernen Reaktion, »Die Zerstörung der Vernunft« (1954), konstruiert er im Untertitel »De[n] Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler«. Der sozialistische Theologe Paul Tillich stützte sich dagegen auf Schellings religionsphilosophisches Werk, um faschistische Ursprungsmythen zu dechiffrieren. Schließlich erschütterten die katastrophalen historischen Erfahrungen von Weltkrieg, Faschismus und Shoah auch in einigen Strängen des Marxismus alte Gewissheiten und regten etwa im exilierten Institut für Sozialforschung ein neues Nachdenken über Naturverhältnisse, Rationalitätsformen und die Fallstricke eines teleologischen Geschichtsbegriffs an, das an zahlreiche Motive Schellings anknüpfen konnte.

Schelling im Anthropozän

Anlässlich von Schellings 200. Geburtstag im Jahr 1975 bezeichnete ihn der Philosoph Odo Marquard als »Zeitgenosse inkognito« – ein Eindruck, der sich im Zuge der ökologischen Krise unserer Gegenwart nur weiter verstärkt hat. Lässt sich mit Schellings Naturphilosophie die ontologische Einbindung des Menschen in das Naturganze fassen, so gibt seine Freiheitsphilosophie Hinweise auf die wirkliche Krisendynamik innerhalb dieses Gefüges. Denn Schelling ging darin auch der Frage nach, wie und warum der Mensch dazu kommt, die Bedingungen seiner eigenen Existenz zu untergraben und zu zerstören.

Schelling trägt seine Überlegungen in einer Semantik des Bösen und der Sünde vor, die für heutige Leser*innen befremdlich klingen mag. In einer zeitgenössischen Lesart lässt sich das »Böse« mit der feministischen Kulturtheoretikerin und Psychoanalytikerin Jessica Benjamin etwa als einseitige Auflösung eines Autonomie-Abhängigkeits-Konfliktes verstehen. Dabei wird die eigene Abhängigkeit des Subjekts geleugnet, indem der Autonomieanspruch absolut gesetzt wird; gleichzeitig sind die Beziehungen zum anderen von Instrumentalisierung, rigider Polarisierung und Dominanzstreben geprägt. Einmal etabliert, erhält dieses entfremdete Beziehungsmuster Schelling zufolge eine geradezu kosmologische Bedeutung und erstreckt sich unter anderem auf menschliche Selbstverhältnisse und die gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Für Schelling ist dabei klar, dass die Verleugnung von Angewiesenheit auf das Subjekt und seine Welt gleichermaßen zerstörerisch wirkt, sodass »Zerrüttung in ihm selbst und außer ihm erfolgt«. Diese »durch den Missbrauch der Freiheit in die Natur gekommene Unordnung« bezeichnet er auch als »Krankheit«.

Doch so wenig sich abweisen lässt, dass Schellings Diagnose einer illusorischen Unabhängigkeit gegenüber der eigenen Kreatürlichkeit etwas Wesentliches an einer Gegenwart trifft, die ihre eigene Existenzgrundlage ruiniert und »Trümmer auf Trümmer häuft« (Walter Benjamin), so abstrakt und unbefriedigend bleibt sie zugleich. Denn in Schellings großem seinsgeschichtlichen Panorama fehlen vollkommen die gesellschaftlichen Vermittlungsglieder, die dem materiellen Lebensprozess zwischen Mensch und Natur eine konkrete, historisch spezifische Gestalt verleihen: Bei aller leidenschaftlichen Ablehnung der instrumentellen Vernunft und ihrer rein »wirtschaftlichen Ansicht« der Natur hatte Schelling zur kapitalistischen Produktionsweise – der objektiven ökonomischen Grundlage dieses Weltverhältnisses – nichts zu sagen.

Maximilian Hauer hat soeben gemeinsam mit Katja Wagner und Maria Neuhauss den Band »Klima und Kapitalismus. Plädoyer für einen ökologischen Sozialismus« im Schmetterling-Verlag veröffentlicht.

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