- Kultur
- Talke Talks
Auflauf-Giving
Hilfe, es ist schon wieder Thanksgiving!
Howdy aus Texas, liebe Lesende, Sie kennen Halloween und den 4. Juli, Santas Coca-Cola-Christmas und den Valentinstags-Blumen-und-Dinner-Pakt. Aber wissen Sie wirklich, was es mit Thanksgiving auf sich hat? Auch für mich war es bis zum Umzug der rätselhafteste aller amerikanischen Riten: ein Herbstfest, das sich inmitten von Weihnachtsdeko abspielt. Im November wird hier allgemeinhin der Weihnachtsbaum – respektive mehrere Bäume, bei einigen gar einer in jedem Zimmer – aufgestellt. Wie sie so lange halten könnten, fragte mich meine Schwiegermutter. »Indem sie künstlich sind, natürlich«, entgegnete ich (nach anfänglichem Zögern habe ich derer vier).
Der Mythos von Thanksgiving besagt, dass die englischen Pilgrims 1621 mit den Natives ein Festmahl genossen, in Frieden und Freundschaft; Historiker zweifeln diesen Umstand energisch an. Ein falsch dekoriertes und kontextualisiertes Familienfest also, an dem sich alle über Politik streiten, und am heftigsten jedes vierte Jahr, weil es direkt nach den Wahlen stattfindet. Nicht zuletzt ein Fest mit dem abscheulichsten Essen in Amerika, seit die Pilgrims das gelobte beziehungsweise gestohlene Land betraten.
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Zu dem trockenen Chlortruthahn gibt es Cranberrysauce gegen Blasenentzündung und eine Ladung »Stuffing«. Einst dachte ich, das sei irgendwas, das, wie der Name andeutet, vorher in den Truthahn gestopft wurde. Aber nicht doch, das finden die Amis ekelig, sie machen ihr Stuffing außerhalb des Vogels: Sie backen in Brühe und Kräuter eingeweichte Brotstückchen im Ofen! Weil sie an Croutons erinnern, nennt man sie im Süden wohl auch »Dressing«. Doch Salate gibt’s zu Thanksgiving selten. Viel beliebter ist die »Green Bean Casserole«: Grüne Bohnen aus der Dose, über die man eine Pilzsuppe (auch aus der Dose) kippt, um sie erst im Ofen zu backen und daraufhin mit frittierten Dosenzwiebeln zu garnieren (sind wir noch immer im reichsten Land der Welt?). Dann gibt es »Corn Pudding«, auch das ein Gammelauflauf, aber diesmal mit Maiskörnern, die in einer Mischung aus Eiern, Butter, Zucker, Milch und Maisstärke (nein, das wird kein Kuchen, sondern eine Beilage zur dummen Pute!) gebacken werden.
Und wem das noch immer nicht süß genug ist, der kann auf die »Sweet Potato Casserole« zurückgreifen, einen, Sie ahnen es schon, Auflauf mit Süßkartoffeln, bedeckt mit ̶ Trommelwirbel! ̶ Marshmallows. Im Süden nimmt man oft Süßkartoffeln aus der Dose, denn die enthalten noch mehr Zucker. Nichts schreit »Das perfekte Dinner« so laut wie die Konservendose. Ach, »Mac and Cheese« hätte ich fast vergessen: Das sind verkochte kleine Nudeln in Käse- und Mehlschwitze, die mit Brotkrumen überbacken (oder gestuffed?) werden. Die Unesco schützte schon die neapolitanische Pizza, das französische Baguette und das koreanische Kimchi. Wann sind denn endlich die US-Thanksgiving-Beilagen dran?
Natürlich ist Thanksgiving nicht nur zum Magenverstimmen und Streiten da. Kurz vor dem Fest schaut man im Fernsehen dem Präsidenten beim »Turkey Pardon« zu, eine etwas alberne Zeremonie, bei der ein oder zwei Tiere vor der Schlachtung »begnadigt« werden. Die Idee der Gnade kam von Ronald Reagan, der von der Iran-Contra-Affäre ablenken wollte wie einst die Pilgrims von der Kolonialisierung. Am Morgen des eigentlichen Festes laufen diejenigen Naivlinge, die hoffen, dass Sport die irreparablen Schäden vorbeugen könnte, die die Casseroles dem Organismus zufügen werden, einen Mini-Marathon genannt »Turkey Trot«. Nachmittags schaut man Football und die Macy’s Parade im TV.
Apropos Macy’s: »Black Friday«, der fake Sonderangebotstag, dürfte Ihnen in Deutschland längst bekannt sein. Früher wurden in den USA am Morgen nach Thanksgiving noch die Läden gestürmt und sich um Fernseher gebeult. Heutzutage sind die pseudo-reduzierten Gammelartikel, die zu Weihnachten schon kaputt oder out sind, Wochen zuvor online zu finden. Täglich wird die E-Mail-Adresse mit idiotischen Werbenachrichten geflutet, die einen zum Shoppen zu überreden suchen, à la: »Kaufen Sie zehn Artikel zum Preis von elf!« Nach all den Strapazen träumt manch Amerikaner von einem »Pardon«.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.