- Politik
- Gewaltenteilung
»Daniel Ortega regiert Nicaragua wie eine Hacienda«
Wendy Quintero Chávez über den Umbau Nicaraguas unter Führung des Präsidentenpaares
Am 20. November Mittwoch hat Nicaraguas Präsident Daniel Ortega dem Parlament eine Vorlage überreicht, die Präsident und Vizepräsidentin auf eine Stufe stellen soll – sie sollen zu Ko-Präsidenten werden. Was bedeutet das?
Diese Initiative ist Teil einer Strategie, den Rechtsstaat in Nicaragua auf den Kopf zu stellen und ihn nach dem Willen dieses Diktatorenpaares umzubauen. Nur ein Beispiel: In Nicaragua gab es eine Bestimmung in der Verfassung, die Folter untersagte. Sie wurde aus der Verfassung gestrichen, denn es ist offensichtlich, dass in Nicaragua gefoltert wurde und wird – das können Organisationen wie das Menschenrechtskollektiv Nicaragua Nunca + belegen.
Denken Sie, dass die Vorlage von Daniel Ortega das Parlament passieren wird?
Wendy Quintero Chávez ist eine nicaraguanische Journalistin, arbeitet für das Menschenrechts-Kollektiv Nicaragua Nunca +, aber auch für die Organisation unabhängiger Journalist*innen und Kommunikationsexpert*innen Nicaraguas (PCIN). Am 26. November nimmt sie für PCIN gemeinsam mit Lucía Pineda den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung entgegen.
Ja, ich bin sicher, dass die Abgeordneten die Verfassungsänderungen absegnen werden (Zustimmung erfolgte am 22. November, d. Red.). In Nicaragua gibt es keine Unabhängigkeit von Legislative und Judikative – die Exekutive hat alle Eckpfeiler des Systems unter Kontrolle. Was da stattfindet, ist eine Farce, denn selbst die Oppositionsparteien stimmen mit den beiden Diktatoren, die alle Macht auf sich vereinen.
Falls das Parlament die Verfassungsänderung verabschiedet, wird die bisherige Vizepräsidentin Rosario Murillo die gleichen Befugnisse haben wie Daniel Ortega. Wird de facto die Macht an Murillo weitergegeben, ist es der Versuch, eine Dynastie aufzubauen?
Ja, ohne Zweifel. Die Beiden regieren ein ganzes Land bereits wie eine Hacienda, ein Landgut. Sie machen, was sie wollen und das mit einem unglaublichen Selbstverständnis. Wir sind die Herrschenden, heißt es ganz offen aus dem Mund von Daniel Ortega. Kritiker, Frauen wie Männer, Andersdenkende werden ausgewiesen, ihnen wird die Staatsbürgerschaft entzogen.
So wie Bischof Enrique Herrera aus der Diözese Jinotega, der vor wenigen Tagen nach Guatemala ausgewiesen wurde, weil er sich beim Bürgermeister beschwert hatte, dass extrem laute Musik während der Messe gespielt wurde.
Ja, Bischof Herrera ist das bisher letzte Beispiel und die Kirchen sind derzeit im Fokus der Verfolgung. Etliche kirchliche Organisationen wurden verboten – insgesamt wurden mehr als 5000 Organisationen der Zivilgesellschaft in Nicaragua verboten. Die Zivilgesellschaft wird brutal zum Schweigen gebracht.
Ausbürgerung ist dabei ein Instrument. Seit dem Februar 2023 sind mehr als 450 Menschen ausgebürgert worden – darunter eine ganze Reihe von Repräsentanten der katholischen Kirche, auch der evangelischen Kirchen, sowie etliche Journalisten, Schriftsteller wie Sergio Ramírez oder seine Kollegin Gioconda Belli. Die Liste ist lang und einige leben ohne Staatsbürgerschaft in Nicaragua, andere im Ausland.
Ihre Kollegin Lucía Pineda, die am 26. November mit Ihnen den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung entgegennehmen wird, wurde ebenfalls ausgebürgert. Gilt das auch für Sie?
Nein, ich lebe nunmehr fast sechs Jahre im Exil. Ich bin im Dezember 2018 geflohen, nachdem ich erlebt habe, wie das Regime Ortega-Murillo im Frühjahr 2018 die Studentenproteste brutal unterdrückte. Dabei wurden laut internationalen Quellen mehr als 350 Menschen ermordet. Anders als Lucía Pineda, leitende Redakteurin von »100%Noticias«, habe ich meine Staatsbürgerschaft noch. Allerdings gehe ich davon aus, dass mein Name auf einer Liste mit potenziellen Kandidat*innen für die Ausbürgerung steht. Unsere Anwälte vom Menschenrechtskollektiv Nicaragua Nunca + glauben, dass es eine schwarze Liste mit mindestens 3000 Namen gibt, es können auch mehr sein. Generell gilt für das Regime: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!
Gibt es auch Nicaraguaner*innen im Land oder im Exil, die ausgebürgert wurden und nicht weiter wissen?
Ja, natürlich, denn sie haben keine Chance, an Papiere, Ausweisdokumente oder die Beglaubigung ihrer Geburtsurkunde zu kommen – ihre Namen werden de facto aus den Archiven gelöscht. Das ist perfide, für die Menschen ein Drama. Etliche tauchen ab.
Sie arbeiten auch für die Organisation unabhängiger Journalist*innen und Kommunikationsexperte*innen Nicaraguas (PCIN). Welchen Stellenwert hat die Organisation?
Wir haben die Organisation im August 2018 gegründet und mittlerweile ist sie das wichtigste Sprachrohr für die mehr als 250 Journalisten aus Nicaragua im Exil. Wir machen auf unsere Situation aufmerksam, wehren uns dagegen, als Verräter, als Feinde des Sandinismus stigmatisiert zu werden, pochen darauf, unseren Beruf in Freiheit und ohne Anfeindungen in Nicaragua durchführen zu können: Wir haben den Auftrag die Bevölkerung zu informieren. Gerade ist in Nicaragua eine Kollegin verschwunden – eine Journalistin des Lokalsenders Canal 23.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.