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»Emilia Pérez«: Wie eine Line Koks

Regisseur Jacques Audiard erzählt in »Emilia Pérez« die Geschichte eines Kartellbosses, der eine Frau werden will

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 5 Min.
Kann man sein altes Ich mit einem neuen Geschlecht einfach ablegen? Karla Sofía Gascón und Zoe Saldaña in »Emilia Pérez«
Kann man sein altes Ich mit einem neuen Geschlecht einfach ablegen? Karla Sofía Gascón und Zoe Saldaña in »Emilia Pérez«

»Emilia Pérez« ist ein Musical über einen brutalen Kartellboss, der sein Geschlecht angleichen lässt. Moment einmal. Ein Musical? Das kann doch nicht funktionieren, das endet bestimmt in einer unfreiwilligen Parodie! Um so viel vorwegzunehmen: Doch, es funktioniert. Und wie – wenn der Regisseur Jacques Audiard heißt, der es meisterhaft versteht, mit unterschiedlichen Filmgenres zu spielen und auch ein besonderes Talent hat, die Zuschauer*innen in das Innenleben seiner ungewöhnlichen Figuren hineinzuziehen.

2009 litt man beispielsweise bei seinem Film »Ein Prophet« mit dem 19-jährigen Malik, der zum ersten Mal verhaftet wird und im Gefängnis seelisch verroht; 2012 berührte er in »Der Geschmack von Rost und Knochen« mit einem Liebespaar jenseits aller Klischees; 2015 gewann er die Goldene Palme für sein eindringliches Thriller-Drama »Dämonen und Wunder« über tamilische Flüchtlinge, die mit der Gewalt in den Pariser Banlieus konfrontiert sind; 2018 wiederum überzeugte Audiard mit dem großartigen Neo-Western »The Sisters Brothers« um zwei schießwütige Outlaws, die unter einem gewalttätigen Vater gelitten haben. Wie man dem Erbe der männlichen Gewalt entkommen kann und welche Traumata und Verletzlichkeit sich hinter rohen Fassaden verbergen, zieht sich wie ein roter Faden durch seine Filme.

So ist es auch in seinem neuen Werk »Emilia Pérez«, das dieses Jahr in Cannes den Preis der Jury sowie einen gemeinsamen Darstellerinnenpreis gewann – da wurden unter anderem »Guardians-of-The-Galaxy«-Star Zoe Saldaña für ihre Rolle als ehrgeizige Anwältin Rita, die spanische Transfrau Karla Sofía Gascón in ihrer oscarverdächtigen Doppelrolle als Gangsterboss Manitas sowie als die titelgebende Emilia Pérez und die Popsängerin Selena Gomez für ihre Rolle als Manitas’ Ehefrau Jessi ausgezeichnet.

Das actiongeladene Musical, neben dem die Netflix-Serie »Narcos« wie ein Dokumentarfilm wirkt, beginnt mit dem Auftritt der schwarzen Anwältin Rita Moro Castro. Aus ihrer Sicht wird die hauptsächlich auf Spanisch gedrehte Geschichte erzählt. Rita schuftet unermüdlich, um üble Gesellen freizubekommen. Die Lorbeeren für ihre Arbeit ernten aber andere und unterbezahlt ist sie obendrein auch noch. »Cuánto, cuánto tiempo más chambearé para nada?« – »Wie lange, wie lange will ich noch umsonst schuften?« singt sie, kurz bevor der mexikanische Kartellboss Manitas del Monte sie trifft, um ihr ein äußerst lukratives Angebot zu machen, das sie kaum ablehnen kann.

Die gesungenen Selbstgespräche und Dialoge – gedreht wurde übrigens auf einer Soundstage in der Nähe von Paris – stammen von der französischen Sängerin Camille und ihrem Lebensgefährten Clément Ducol. Die Songs, die den Cannes Soundtrack Award erhielten, fügen sich – auch Dank der großartigen Darstellerriege – erstaunlich organisch in die tiefgründige Geschichte ein und pushen auf wie eine Line Koks. Das erinnert stark an die intensiven Filme von Xavier Dolan, besonders an sein Meisterwerk »Laurence Anyways«. Auch da schlüpft man in die Haut eines Mannes, der sich entschließt, als Frau zu leben, um endlich sie selbst zu sein. Wie mühelos Audiard und sein Kameramann Paul Guilhaume zwischen Musical-Nummern und Drama wechseln, muss man gesehen haben.

Wer bereit ist, sich auf eine Achterbahn der Gefühle einzulassen, dem sei dieses kühne Filmspektakel um den Teufel Identität wärmstens ans Herz gelegt.

Manitas fühlt sich schon immer als Frau in einer hypermaskulinen Welt und hat beschlossen, sich endlich von seinem grausamen Geschäft zurückziehen – und sich einer Transition zu unterziehen. Rita soll alles arrangieren, auch seinen vorgetäuschten Tod. Selbst seine Frau Jessi und seine geliebten Kinder dürfen nicht in seine Pläne eingeweiht werden. Schließlich findet Rita einen Arzt, der sich dazu bereit erklärt, ihr jedoch singend zu verstehen gibt: »Du weißt, ich repariere nur den Körper, Haut und Knochen, aber die Seele werde ich nie reparieren.« So wird Manitas del Monte zur Emilia Pérez.

Als Rita Jahre später wieder von Emilia aufgesucht wird, steht sie zwar immer noch einem starken Charakter, jedoch auch einem nicht nur äußerlich sehr veränderten Menschen gegenüber: Emilia vermisst ihre Kinder so sehr, dass sie Rita bittet, sie wieder mit ihr zusammenzubringen. Zudem beschließt sie, gemeinsam mit Rita eine NGO zu gründen, die Vermisstenfälle für Angehörige von Kartellopfern aufklärt. Emilia sehnt sich mit jeder Faser ihres neuen Körpers danach, das von ihr mitverursachte Leid wiedergutzumachen. Doch kann man eine alte, schreckliche Schuld begleichen und sein altes Ich mit einem neuen Geschlecht einfach ablegen? Diese spannende Frage wirft diese einzigartige Mischung aus Melodrama, High-Energy-Musical, Arthouse-Drama, Telenovela und Mafiafilm auf.

Gemeinsam schmeißen Rita und Emilia eine NGO-Gala, bei der Zoe Saldaña sich mit einer energiegeladenen Performance in den Olymp der unvergesslichen Filmszenen singt und tanzt. Pure Kinomagie.

Ob Emilia in alte Muster verfällt oder letztlich erlöst wird und den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen kann, ist wie sie selbst unvorhersehbar. Kontrollfreaks seien von »Emilia Pérez« abgeraten, doch wer bereit ist, sich auf eine Achterbahn der Gefühle einzulassen, dem sei dieses kühne Filmspektakel um den Teufel Identität wärmstens ans Herz gelegt.

»Emilia Pérez«, Frankreich 2024. Regie und Buch: Jacques Audiard. Mit: Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz. Kinostart: 28. November.

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