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Antisemitismus-Bericht für Berlin: Das neue Normal

Die Meldestelle Rias registriert Höchstwert an antisemitischen Vorfällen seit Erfassungsbeginn – und warnt vor gefährlichen Grenzverschiebungen

Rote Dreiecke im Stadtbild: Die Braunschweiger Straße in Neukölln Ende September
Rote Dreiecke im Stadtbild: Die Braunschweiger Straße in Neukölln Ende September

Es ist Sommer in Berlin, als Anna Chernyak Segal den Entschluss fasst, mit ihren Kindern schwimmen zu gehen. Als die jüdische Familie im Neuköllner Freibad ankommt, wird sie dort von einem großen roten Dreieck am Eingang begrüßt – einem Symbol, das die islamistische Hamas zur Markierung feindlicher Ziele nutzt.

»Daneben stehen Hunderte von Menschen, und es gehört hier einfach dazu«, sagt Chernyak Segal am Donnerstag in der Neuen Synagoge in Mitte. »Da fragt man sich schon: Bin ich hier eigentlich noch richtig in der Stadt?« Die Geschäftsführerin der jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel ist der Einladung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) gefolgt, die normalerweise im jährlichen Rhythmus neue Berichte veröffentlicht. Dieses Mal ist es schon nach einem halben Jahr so weit. Zu bemerkenswert, teilt Rias mit, seien die neuen Zahlen.

Insgesamt 1383 antisemitische Vorfälle registriert Meldestelle für die Zeitspanne von Januar bis Juni. Damit übersteigt die Zahl für 2024 schon nach sechs Monaten sämtliche Jahreswerte, die Rias seit Beginn seiner Dokumentation im Jahr 2015 aufgezeichnet hat. Der Terrorangriff des 7. Oktober und der darauffolgende Krieg in der Region böten eine »Gelegenheitsstruktur für antisemitische Äußerungen und Handlungen«, heißt es im neuen Bericht. Zugleich hätten sich die Grenzen des Sagbaren insgesamt verschoben. Rias warnt vor einer zunehmenden Normalisierung antisemitischer Äußerungen, von Verschwörungsmythen über Shoah-Bagatellisierungen bis hin zu offen antisemitischen Beleidigungen.

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Die Vorfälle unterteilt Rias in sechs Kategorien: extreme Gewalt (2), Angriffe (23), Bedrohungen (28), gezielte Sachbeschädigungen (37), Massenzuschriften (53) und verletzendes Verhalten (1240). Zu Letzterem zählt die Meldestelle sämtliche Vorfälle, bei denen jüdische Institutionen und Personen »gezielt böswillig und diskriminierend« adressiert werden, auch wenn sich in der Sprache keine antisemitischen Stereotype finden. Als Beispiel nennt Rias einen Vorfall Anfang Februar, bei dem eine Person im Vorbeigehen an der Neuen Synagoge »Fuck Israel« und »Free Palestine« gerufen haben soll.

Ebenfalls als verletzendes Verhalten werden generell antisemitische Aussagen gewertet, etwa auf Aufklebern oder in Form von Graffiti. Sie werden auch dann in die Statistik aufgenommen, wenn sie sich an nichtjüdischem Eigentum befinden. So wurde Ende Februar an einer E-Auto-Ladestation in Friedrichshain-Kreuzberg die Schmiererei »Juden sind Mörder« entdeckt. Während Rias »Free Palestine« nicht per se als antisemitisch wertet, läuft die Parole »From the River to the Sea« bei der Meldestelle unter israelbezogenem Antisemitismus.

Die meisten Vorfälle, 715 an der Zahl, registriert Rias für den Tatort Internet. 347 Übergriffe fanden demnach auf der Straße, 80 im öffentlichen Nahverkehr und 80 in Bildungseinrichtungen statt. »Die neue Dimension liegt im alltagsprägenden Charakter der Übergriffe«, sagt Rias-Projektleiterin Julia Kopp. Der Antisemitismus begegne Jüdinnen und Juden unter anderem im ÖPNV, auf dem Campus, in der Bar, beim Einkaufen. Auf Betroffene wirke das zunehmend zermürbend, so Kopp, viele zögen sich zurück. »In der Konsequenz heißt das, dass jüdisches Leben in Berlin noch weniger sichtbar ist, als es ohnehin schon war.« Kopp vermutet einerseits, dass die Bereitschaft, antisemitische Vorfälle zu melden, zugenommen hat. Andererseits geht die Projektleiterin gerade bei Vorfällen im Internet von einer hohen Dunkelziffer aus.

»Wir melden nicht jeden kleinen Vorfall. Wir wären den ganzen Tag beschäftigt«, ergänzt Anna Chernyak Segal. Mitglieder ihrer Gemeinde seien zunehmend darauf bedacht, sich im öffentlichen Raum nicht als jüdisch zu erkennen zu geben. Ausgerechnet am Shabbat, von Freitagabend bis Samstagabend, falle der Weg zur Synagoge immer schwerer. Grund dafür seien auch die zahlreichen propalästinensischen Proteste. »Die Demonstrationen laufen vor unseren Haustüren vorbei«, sagt Chernyak Segal. Die Berliner Polizei habe der Gemeinde unlängst zu verstehen gegeben, sich während der Proteste von den Straßen fernzuhalten.

»Es gibt faktisch gerade kein öffentliches jüdisches Leben ohne Polizeischutz.«

Sigmount Königsberg Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde Berlin

Kritik an den Behörden übt Chernyak Segal im Fall eines Gemeindemitglieds, eines ukrainischen Juden, der im Mai von einem Mann mit einem E-Roller attackiert wurde, während dieser »Free Palestine« rief. Der Betroffene landete mit einem Knochenbruch an der Hand im Krankenhaus. Obwohl der Täter gefilmt und von Anwohnenden beobachtet worden sei, habe die Polizei keine Zeugen finden können, sagt Chernyak Segal. Bislang ist der Fall ungeklärt.

Besonders sorgten sich Berliner Jüdinnen und Juden um die Sicherheit ihrer Kinder. Chernyak Segal erinnert an die Attacken bei einem Spiel der Jugendmannschaft des jüdischen Sportvereins TuS Makkabi Anfang November in Neukölln. »Sie wurden dort beleidigt, bespuckt und bedroht«, sagt die Gemeinde-Leiterin. Eltern überlegten spätestens jetzt, ob sie ihre Kinder noch in einen jüdischen Sportverein schicken könnten oder nicht.

Dem Antisemitismus-Beauftragten der Jüdischen Gemeinde in Berlin zufolge lassen sich ganz ähnliche Dynamiken auch an Berliner Schulen beobachten. Früher seien etwa zwei Drittel neuer Schülerinnen und Schüler aus Interesse am Judentum und ein Drittel aus Sorge vor Diskriminierung auf eine jüdische Schule gewechselt, sagt Sigmount Königsberg. »Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt.« Rias beziffert die Zahl antisemitischer Vorfälle an Berliner Schulen im ersten Halbjahr auf 27. Darunter seien Angriffe, bei denen jüdische Schulkinder geschlagen, gestoßen und bespuckt wurden, einhergehend mit Beleidigungen und Beschimpfungen. Vorfälle hätten sich in neun der insgesamt zwölf Bezirke ereignet. Auch hier geht Rias von einer hohen Dunkelziffer aus.

»Es gibt faktisch gerade kein öffentliches jüdisches Leben ohne Polizeischutz«, ergänzt Königsberg. Sportereignisse, die eigentlich Anlass zur Freude sein sollten, mutierten zu Polizeigroßeinsätzen, und auch die Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu-Antonio-Stiftung seien nicht ohne Polizeischutz ausgekommen. Selbst muslimisch-jüdische Projekte in Berlin wie Shalom Rollberg gerieten unter Druck. »Es ist für mich nicht akzeptabel«, so Königsberg.

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