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Gisèle Pelicot - Du bist kein Subjekt
Die meisten Männer schweigen bisher zum Fall Gisèle Pelicot. In letzter Konsequenz drückt sich damit Komplizenschaft aus
Der Fall Gisèle Pelicot hält Frankreich in Atem. Die 72-Jährige ist durch ihren Mut und ihre Stärke im Kampf gegen ihren ehemaligen Ehemann und langjährigen Vergewaltiger zu einer feministischen Ikone avanciert. Dieser hatte sie jahrelang unter Betäubung nicht nur selber missbraucht, sondern auch anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten. Vergangenen Montag forderte die Anklage dafür die Höchststrafe von 20 Jahren Haft. Gisèle Pelicot hatte auf ein öffentliches Gerichtsverfahren bestanden mit der Begründung, die Scham müsse »die Seiten wechseln« – von der Seite des Opfers auf die der Täter. Doch ist das wirklich passiert? Was braucht es dazu? Dass die meisten Männer – Journalisten, Intellektuelle, Politiker, Aktivisten – bisher zu diesem Fall geschwiegen haben, zeugt jedenfalls nicht von einem Schamgefühl für die Taten ihrer Geschlechtsgenossen. Im Gegenteil offenbart sich darin eine tiefgreifende individuelle sowie strukturelle Komplizenschaft mit den Vergewaltigern.
Dass der Hauptangeklagte Dominique Pelicot relativ unumwunden gestanden hat, selbstverständlich ein Vergewaltiger zu sein, ebenso wie seine Mitangeklagten, zeugt auch nicht von spät einsetzenden Schuld- oder Reuegefühlen. Es handelt sich dabei eher um eine Tatsachenbeschreibung – auch wenn einige der Mittäter aussagten, nicht davon gewusst zu haben, dass sie eine Straftat begehen würden. In den Medien staunte man über diese vorgebliche Naivität oder Ignoranz ebenso wie über die Tatsache, dass es sich bei den Tätern um »ganz normale Männer« aus allen gesellschaftlichen Schichten und Alterskohorten handelt. Dabei ist das gar nicht so bemerkenswert. Außergewöhnlich an diesem Fall ist eher, dass er ans Licht kam – dank Dominique Pelicot selbst, der jede der Vergewaltigungen gefilmt und akribisch dokumentiert hat, vorgeblich, um sich selbst nicht erpressbar zu machen.
Hat der Fall in Frankreich zumindest eine öffentliche Diskussion über männliche sexuelle Gewalt und die vorherrschende Kultur der Vergewaltigung ausgelöst, fokussierte sich die deutschsprachige Debatte wieder einmal eher auf die vermeintliche Unfassbarkeit der Taten und die »Monströsität« des Tathergangs. Nur am Rande wurde auf die strukturelle Dimension des Falls eingegangen. Dieses Desinteresse an männlicher Täterschaft ist einer tief verwurzelten gesellschaftlichen Realität geschuldet: Normalität ist unter patriarchalen Lebensbedingungen eben die Allgegenwart männlicher Gewalt. Fälle wie der von Gisèle Pelicot, die an die Öffentlichkeit gelangen und skandalisiert werden können, sind nur die Spitze eines Eisberges tagtäglicher Gewalt gegen Frauen und FLINTA*. Trotz dieser ernüchternden Tastsache lehnen die meisten Männer nach eigener Aussage sexuelle Gewalt ab und erleben sich selbst auch nicht als sexistisch oder gar frauenfeindlich. Das fehlende Bewusstsein oder Empfinden für die eigene Partizipation an patriarchaler Gewalt oder gar für die eigene (potenzielle) Täterschaft ist aber zentraler Bestandteil der stetigen Reproduktion dieser Verhältnisse. Die Ignoranz der Täter gegenüber ihren Taten ist ein essenzieller Aspekt männlicher Täterschaft.
Unter patriarchal-kapitalistischen Bedingungen ist der Kern männlicher Subjektivität notwendig auf die Fiktion der eigenen Souveränität und Autonomie angelegt. Der Publizist Kim Posster spricht in seinem Buch »Männlichkeit verraten!« (2023) in dieser Hinsicht von »Souveränitätsphantasmen«: Diese basieren auf der vehementen Verdrängung jeglicher interpersonaler Abhängigkeitsverhältnisse, besonders wenn es sich dabei um Abhängigkeiten von Frauen oder FLINTA* handelt. Um also sich selbst als unabhängig imaginieren zu können, müssen Männer Frauen als eigenständige Subjekte negieren. Nur so ist es ihnen möglich, mit Frauen Beziehungen führen zu können. Dieses Dominanzbedürfnis resultiert zwar nicht in jedem Fall in der unmittelbaren Ausübung von Gewalt und Zwang, schließt diese aber implizit als letzte Mittel zum Zweck ein. Aus dem Drang nach Unabhängigkeit und der tatsächlich erfahrenen Abhängigkeit entsteht bei Männern ein bedrohliches Gemisch aus dem Verlangen nach Nähe und Intimität und dem Bedürfnis, Frauen zu unterdrücken und zu beherrschen. Auf der Ebene der Sexualität wird dieser Unterwerfungsdrang noch einmal besonders virulent. Das (cis-)heterosexuelle Begehren nach der physischen Verschmelzung mit dem weiblichen Objekt verspricht auf der einen Seite die Erlösung von dem Autonomie-Konflikt, indem dieses angeeignet wird, führt aber andererseits auch zur besonders deutlichen Vergegenwärtigung der Abhängigkeit von dem weiblichen Anderen. Die Aggression auf die weibliche Unabhängigkeit wird so letztlich auf einer körperlich-sexuellen Dimension reproduziert. Die Unterwerfung von Weiblichkeit wird zur Quelle sexueller Lust überhaupt.
Auch wenn nicht alle Männer zu Gewalttätern werden, wird diese Ausgangslage gesellschaftlich permanent reproduziert. Eine Studie des »Office of the Children’s Commissioner for England« (2023) weist zum Beispiel darauf hin, dass beinahe die Hälfte der unter 18-jährigen Pornokonsumenten davon ausgeht, dass Mädchen Gewalt beim Sex »erwarten« würden. Eine andere Studie zu männlicher Gewalt in der Prostitution, »Men who buy sex« (2009), kam zu dem Ergebnis, dass die Hälfte aller Freier davon ausgeht, Vergewaltigungen seien natürliche Folge männlicher Erregung. Beide Ergebnisse überraschen nicht, wenn man sich klarmacht, dass sowohl Pornografie als auch Prostitution auf der Reinszenierung von weiblicher Objektivierung und männlicher Dominanz beruhen. Damit bilden sie eine Schablone für die Fiktion der männlichen Souveränität.
Das Schweigen der Männer ist insofern kein Zufall. Es ist Ausdruck einer tiefgreifenden strukturellen Verwobenheit mit den patriarchalen Verhältnissen, letztlich männliche Komplizenschaft mit männlicher Täterschaft. Gerade eine Linke, die mit Überforderung auf diese Verflechtungen reagiert oder klassisch marxistisch als Nebenwiderspruch abtut, kann den faschistischen »Your body, our choice«-Allmachtsphantasien kaum etwas entgegensetzen. Genau das ist jedoch in einer Zeit, in der mit Donald Trump gerade erst wieder ein frauenverachtender Populist zur mächtigsten Person der Welt gewählt wurde, unverzichtbar.
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