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Eine Kritik der Kritik
Vom Leiden zur Veränderung der Gesellschaft: Karsten Schubert plädiert für eine neue konstruktivistische und ökonomiefokussierte Identitätspolitik
Schon der Titel von Karsten Schuberts Buch »Lob der Identitätspolitik« verrät einen ungewöhnlichen Zugang zum Thema. Gegen diese gibt es eine breite Ablehnung durch alle politischen Lager hinweg. Ein Zuviel an Identität schränke unsere Freiheit, zum Beispiel unserer gewohnten Sprache, ein, so ein gängiger Allgemeinplatz.
Schubert ist ein Kenner der Politischen Theorie und Experte zur Machttheorie des französischen Philosophen Michel Foucault. Gerüstet mit diesem Werkzeugkasten schaut er tiefer in die Geschichte und Konstitution moderner Gesellschaft. Seit der Aufklärung und der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit leiten sich aus dem Menschsein individuelle Rechte ab. Das Individuum soll vor illegitimen Einschränkungen der politischen Herrschaft geschützt werden. Freiheit und Gleichheit werden seit der Französischen Revolution zu universellen Rechten erklärt. Der Freiheitsbegriff beinhaltet auch den Schutz von Eigentum und seiner Vermehrung. Dass dies zu Ausschlüssen führt, kritisierte schon der junge Karl Marx. Daneben gibt es aber weitere Ausschlüsse, von Frauen, von schwarzen Menschen, denen nicht die gleichen Freiheitsrechte zuerkannt wurden. Die Ausgrenzung der werktätigen Klasse wurde prägnant durch Marx und Friedrich Engels gegeißelt. Schubert hält fest: »Die erste Form der modernen Identitätspolitik ist Klassenpolitik.«
Identitätspolitik ist also nicht eine Erscheinung jüngeren Datums. Jedoch berufen sich nun mehr Gruppen auf Identität, beispielsweise queere Menschen. Schubert konstatiert: »Identitätspolitik ist eine überwiegend linke und emanzipatorische Politik von marginalisierten Gruppen, die sich gegen Diskriminierungsverhältnisse wie Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit engagiert.« Auch wenn sich vieles verändert hat, die Arbeiterklasse nicht mehr im Manchesterkapitalismus lebt, schwule Männer nicht über Jahre inhaftiert werden, Frauen und Juden gleiche Staatsbürger sind, so sind Ausschlüsse und Diskriminierungen weiterhin vorhanden. Frauen verdienen weniger als Männer, schwarze Menschen werden häufiger von der Polizei kontrolliert und vieles mehr. Mit einem radikalen demokratietheoretischen Verständnis betrachtet der Autor die heutigen Ausschlüsse. Dabei bezieht er sich auf Foucault, der Macht als allgegenwärtig und konstitutiv für unsere Gesellschaft betrachtete. Was wir als vernünftig wahrnehmen, ist durch Macht hervorgebracht. Anschließend an Schubert könnte man beispielweise folgern, wer sich auf »Vernunft und Gerechtigkeit« bezieht, wie es Sahra Wagenknecht mit ihrer neuen Partei als Slogan tut, will bestimmte Machtverhältnisse bewahren und Ausschlüsse festschreiben.
»Cancel Culture« und »Political Correctness« sind zwei Reizbegriffe aktueller politischer Debatten. Es gibt innerhalb des politischen Raums kaum noch ernstzunehmende Befürworter dieser Strategie. Mit »Cancel Culture« wird ablehnend auf politische Eingriffe Bezug genommen, die etwas ausgrenzen, beziehungsweise abkanzeln (canceln) wollen. Hier wird gerne als Beispiel auf das Überstreichen eines Gedichts an der Hauswand der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf im Jahr 2018 verwiesen. Das Gedicht von Eugen Gomringer wurde als sexistisch bezeichnet. Nach einer Eingabe des Studierendenausschusses und einem Beschluss der Hochschule wurde es übermalt. Auch in dieser Zeitung gab es dazu hitzige Beiträge.
Mit »Political Correctness« werden meist Eingriffe in die Sprache beschrieben. Das Gendersternchen (*) oder das günstige Schnitzel mit einer Tomaten-Paprika-Soße, dass nicht mehr im Namen auf eine Bevölkerungsgruppe Bezug nimmt. Schubert möchte auch hier von der Erscheinungsebene wegkommen. Diejenigen, die »Cancel Culture« und »Political Correctness« ablehnen, beziehen sich aus seiner Sicht auf einen Freiheitsbegriff, der verzerrt ist. Sie betrachten Freiheit nur aus der Perspektive der Privilegierten, um Diskriminierungen festzuschreiben, so Schubert. Konservative, Rechte, Ex-Linke, aber auch Linke würden hier etwas bewahren wollen, was die Freiheit anderer Menschen einschränkt. Es ginge ihnen um ein »Abblocken von Kritiken an Sexismus, Rassismus und Trans- und Queerfeindlichkeit«. Auch wenn er – meines Erachtens treffend – einen zu kritisierenden »rechtsnietzschesianischen« Kern der Kritiker offenlegt, so hätte er stärker berücksichtigen müssen, dass emanzipatorische Kräfte auch in der Pflicht stehen, Diskriminierungen und Ausschlüsse zu erklären und um breite gesellschaftliche Mehrheiten für eine Veränderung von Sprache und Kunst zu werben.
Im Folgenden plädiert Schubert für eine »konstruktivistische Identitätspolitik«, die es vermeidet, sich »wesenhaft« auf eine Identität zu beziehen. Für Schubert ist Identitätspolitik »ein gesellschaftliches Labor für neue Subjektivierungen, die es erlauben, das Korsett der dominanten Normen zu sprengen«. Sie müsse sich stets selbst hinterfragen und vermeiden, nur noch auf das Interesse einer Gruppe zu schauen. Das Sensibilisieren für weitere Diskriminierungen und das Schließen von Bündnissen seien wichtig. Selbst eine Gruppe sei stets von Ausschlüssen durchzogen. Schwarze Feministinnen machen auf den weißen Charakter der Frauenbewegung in den USA aufmerksam, sozialistische Frauen hierzulande prangern den bürgerlichen Bezug der deutschen Frauenbewegung an. Identitätspolitik müsse solche eigenen Ausschlüsse vermeiden: »Identitätspolitik kann demokratisch genannt werden, wenn sie beim Ringen um bessere Repräsentation in den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft wirksam gegen eigene Repräsentationsverzerrungen vorgeht.«
Der wohl gewichtigste Einwand gegen Identitätspolitik ist der, dass sie anti-universalistisch sei. Sie schaue nur auf partikulares Interessen. Dies wird gerade auch von Marxisten ins Feld geführt. Schubert betont, man müsse vom Besonderen ausgehen, um zum Allgemeinen zu kommen. Er folgert: »Wir brauchen eine identitätspolitische Kritik, damit sie der Gesellschaft den Spiegel vorhält, denn nur so können wir die Gesellschaft tatsächliche für alle besser machen.«
Natürlich, und dies bestreitet Schubert nicht, gibt es überdrehte Identitätspolitik, gerade wenn diese elitär und erhaben daherkommt. Dies bezeichnet er als regressive Identitätspolitik. Schuberts Anliegen ist eine linke, eine progressive. Mit seinem Buch möchte er Gruppen, denen in dieser Gesellschaft Leid widerfährt, Kraft geben, um die Gesellschaft zu verändern und weiter zu demokratisieren. Das Berufen auf eine Identität ist laut Schubert ein notwendiger Schlüssel, um dieses Ziel zu erreichen. Frauen, schwarze und queere Menschen sind zum Teil schon erfolgreich. Doch vor der Folie eines »entfesselten Kapitalismus«, wünscht sich Schubert eine »neue ökonomiefokussierte Identitätspolitik«. Diesen erst im hinteren Teil des Buches formulierten Gedanken hätte der Autor systematischer in seiner gesamten Argumentation berücksichtigen sollen. Ansonsten: Die Lektüre bietet zwar eine nicht immer leichte, aber umso gehaltvollere Kost.
Karsten Schubert: Lob der Identitätspolitik, C. H. Beck, 225 S., geb., 20 €.
Unser Autor Bodo Niendel, Mitarbeiter der MdB Kathrin Vogler und Dietmar Bartsch, ist Vorsitzender des Bildungsvereins Helle Panke, der zum 40. Todestag von Foucault am 5.12. in den Technoclub about blank am Ostkreuz in Berlin zu einer Diskussion mit dem Buchautor sowie Urs Lindner und Christian Schmid einlädt (ab 16.30 Uhr).
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