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- Diskriminierung im Justizsystem
U-Haft für Ladendiebstahl
Deutsches Justizsystem benachteiligt Ausländer massiv
Die Strafverfolgungsstatistik ist recht eindeutig: 60 Prozent der rund 12 000 Untersuchungshäftlinge in Deutschland sind dauerhaft Personen ohne Wohnsitz in der Bundesrepublik. Dabei beträgt ihr Anteil an den Beschuldigten nur 30 Prozent.
Der Berliner Verein Justice Collective kritisiert diese Praxis, weil Ausländer oft wegen Bagatelldelikten wie Diebstahl lange inhaftiert werden, Delikte, die dies nicht rechtfertigen. »Die Aussage, dass Ausländer viel schneller und häufiger wegen geringer Delikte in U-Haft geraten, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen«, sagt auch ein Richter an einem Amtsgericht einer großen Ruhrgebietsstadt zu »nd«.
Der Wormser Rechtsanwalt Jürgen Möthrath sieht keine Benachteiligung von Ausländern durch das Strafrecht selbst, in seiner praktischen Anwendung aber schon, und zwar im gesamten Strafverfahren. So werde ihnen erst ab einer zu erwartenden Freiheitsstrafe eine Pflichtverteidigung zur Seite gestellt, berichtet der Präsident des Deutschen Strafverteidigerverbands.
Oft bekämen Ausländer die Anklage nicht in ihre Muttersprache übersetzt, und nur in der Hauptverhandlung stehe ihnen ein Dolmetscher zur Seite, so Möthrath zu »nd«. »Ein Anspruch auf Übersetzung der gesamten Akte gibt es nicht, und ohne Strafverteidiger ist niemand da, der die Akte für den Ausländer inhaltlich bearbeitet.«
Möthrath fordert, jedem Ausländer müsse vor seiner ersten Vernehmung bei der Polizei ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden. Allerdings müsse hier erst die Finanzierung geklärt werden, denn Pflichtverteidiger werden von der Staatskasse bezahlt. »Allein dadurch würden viele Verfahren beschleunigt und die Zahl der U-Haft-Fälle würde sinken«, gibt der Strafverteidiger zu bedenken. Auch würde es dann mehr Verfahrenseinstellungen gegen Geldauflage statt der teuren U-Haft geben.
Ein weiteres Problem für Menschen in U-Haft: Anders als bei Verurteilten gibt es für sie kaum Freizeitangebote, Arbeit oder Sozialprogramme. »Für die U-Haft gibt es so gut wie keine Arbeitsplätze«, berichtet Möthrath.
Lara Möller und ihre Mitstreiter vom Justice Collective beobachten seit Jahren Prozesse wegen »Massendelikten«, also häufig begangenen Straftaten, um Diskriminierung wegen Armut und Rassismus zu dokumentieren. »Bei unseren Prozessbeobachtungen im Amtsgericht sehen wir, dass rassifizierte und migrantisierte Menschen unverhältnismäßig häufig kriminalisiert werden«, sagt Möller. Das liege daran, dass diese Delikte oft im Zusammenhang mit Armut stehen und von Rassismus Betroffene zugleich häufiger arm sind.
Möller verweist darauf, dass »rassifizierte« Menschen ohnehin häufiger kontrolliert und angezeigt werden: »Im Gericht werden Polizeibeamte sowie Ladendetektive und Ticket-Kontrolleure als Zeug*innen geladen. Ihre Aussagen werden von Richter*innen als glaubwürdige Beweismittel gesehen, wohingegen rassifizierte Angeklagte wegen rassistischer Zuschreibungen als unzuverlässig angesehen werden.«
Obwohl Untersuchungshaft eigentlich nur die Ultima Ratio sein soll, etwa bei der Gefahr von Wiederholungstaten, wird sie von Haftrichtern gegen Migranten meist allein wegen vermeintlich besonders hoher Fluchtgefahr verhängt. Dabei soll sie eigentlich nur angeordnet werden, wenn im Prozess eine erhebliche Freiheitsstrafe für den Beschuldigten zu erwarten ist und befürchtet werden muss, dass er in Freiheit Beweise manipuliert, Zeugen einschüchtert oder die Tat wiederholen könnte. Viele Beschuldigte müssen entsprechend wieder entlassen werden, weil ihre U-Haft bereits länger andauert als die zu erwartende Strafe.
»Bei unseren Prozessbeobachtungen im Amtsgericht sehen wir, dass rassifizierte und migrantisierte Menschen unverhältnismäßig häufig kriminalisiert werden.«
Lara Möller Justice Colltective
Das Justice Collective hat indes in den von seinen Mitgliedern beobachteten Verfahren festgestellt, dass von 169 Angeklagten, bei denen das Gericht Fluchtgefahr vermutete, die jedoch trotzdem freigelassen werden mussten, nur 14 flohen. Die Initiative kritisiert auch, dass Alternativen wie Meldeauflagen bei der Polizei oder die elektronische Fußfessel zu selten genutzt werden.
»Aus Erfahrungsberichten von Betroffenen sowie Behauptungen von Richter*innen, dass Beschuldigte ohne Haft ›zum Verhandlungstermin nicht mehr aufzufinden seien‹, ergibt sich für uns der klare Eindruck, dass Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft pauschal unterstellt wird, sich dem Verfahren entziehen zu wollen«, sagt Lara Möller.
So werde der »Fluchtgefahr-Paragraf« 112 der Strafprozessordnung auf ausländische Beschuldigte fast pauschal angewendet. Laut Studien werden mehr als 80 Prozent der Anordnungen von U-Haft so begründet. Strafverteidiger Möthrath weiß aus jahrzehntelanger Praxis, dass gegen diesen Haftgrund nur schwer etwas zu tun ist. In der »politischen Interessendurchsetzung« seien die Interessenverbände der Richter und Staatsanwälte »weitaus erfolgreicher als die Anwaltschaft«.
Möller geht in ihrer Kritik deutlich weiter. »Dass Richter systematisch zum Nachteil von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden, zeigt für uns die systemische Funktion des Strafsystems, das Grenzregime und rassistische Strukturen aufrechtzuerhalten«, meint sie. Kriminalisierung, Kontrolle und Verurteilung von Migranten fügen sich laut Justice Collective in die »Abschottungs- und Abschreckungspolitik« sowie populistische Diskurse um »Ausländerkriminalität« ein.
Möller fordert, dass bei Bagatelldelikten wie Diebstahl keine U-Haft mehr verhängt wird. Rund ein Drittel der Untersuchungshäftlinge sitzt wegen Ladendiebstahls und Ähnlichem ein. Ihre U-Haft dauert oft länger als die zu erwartende Strafe.
Laut Statistik wird nur die Hälfte der Beschuldigten in U-Haft später zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Fast 30 Prozent erhalten eine Bewährungs- und zehn Prozent eine Geldstrafe. Weitere acht Prozent werden freigesprochen oder ihr Verfahren wird eingestellt.
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