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Polio und andere Viren: Erkenntnisse aus dem Abwasser

Nicht nur die Erreger von Covid und Grippe können im Abwasser nachgewiesen werden. Unlängst wurden so Polioviren aufgespürt

Während es im Gazastreifen an sauberem Trinkwasser mangelt, wurde dort im Sommer der Erreger der Kinderlähmung im Abwasser nachgewiesen.
Während es im Gazastreifen an sauberem Trinkwasser mangelt, wurde dort im Sommer der Erreger der Kinderlähmung im Abwasser nachgewiesen.

Polio, auch bekannt als Kinderlähmung, verbreitete bis zur Entwicklung erster Impfstoffe ab Mitte der 1950er Jahre Angst und Schrecken. Die Krankheit ist nicht behandelbar und kann zu dauerhaften Lähmungen und schlimmstenfalls zum Tod führen. Patient*innen mit Lähmungen des Atemapparats wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Krankheit in die »eiserne Lunge« gezwungen, ein den Körper umschließendes Beatmungsgerät, das heutzutage nicht mehr eingesetzt wird.

Dank der Impfung ist die Krankheit mit dem medizinisch korrekten Namen Poliomyelitis weltweit fast ausgerottet, nur in Afghanistan und Pakistan kommt es noch regelmäßig zu Infektionen mit dem Wildtyp des Virus. In anderen Ländern, vor allen Dingen in Regionen mit schlechter Gesundheitsversorgung, tritt Polio immer noch sporadisch auf. Im Gazastreifen wurde trotz aller Widrigkeiten des Krieges Ende August eine Impfkampagne bei Kindern unter Leitung der Weltgesundheitsorganisation gestartet. Anlass dafür waren Nachweise des Virus im Abwasser von Chan Junis und ein positiv auf Polio getestetes Baby.

Auch in Deutschland wird das Abwasser im Rahmen eines Forschungsprojekts an einigen Standorten regelmäßig auf Polioviren untersucht. Nun wurden laut Mitteilung des Robert-Koch-Instituts vom 4. Dezember in mittlerweile sieben Städten (München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz) Polioviren im Abwasser gefunden. Verdachtsfälle auf Erkrankungen wurden jedoch bislang nicht gemeldet. Das RKI ruft medizinisches Personal dazu auf, Impflücken zu schließen und hinsichtlich Poliomyelitis-typischer Symptome wachsam zu sein. Auch in Barcelona und in Warschau seien kürzlich Polioviren im Abwasser nachgewiesen worden. In vergangenen Jahren hatte es ähnliche Nachweise etwa in London und Jerusalem gegeben.

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In all diesen Fällen handelt es sich um abgeschwächte Viren aus der Schluckimpfung. Wer auf diesem Weg frisch geimpft ist, kann entsprechende Viren ausscheiden. In Deutschland, wie auch den meisten anderen Ländern kommt die Schluckimpfung längst nicht mehr zum Einsatz, sondern es wird ein inaktivierter Impfstoff in den Muskel gespritzt. Obwohl das die risikoärmere Methode ist, setzt sie eine hohe Impfquote voraus. Denn sie verhindert nur den Ausbruch der Krankheit, nicht aber eine Infektion und damit auch weitere Ansteckungen. Daher wird in manchen Regionen noch immer die Schluckimpfung bevorzugt, die einige Wochen danach einen sterilen Impfschutz bietet. Die aus der Schluckimpfung abgeleiteten Polioviren »sind Viren, die durch Rückmutation die Neurotoxizität zurückerlangt haben und sie können somit, wie Wildpolioviren, zu akuten schlaffen Lähmungen führen«, erklärt Rainer Gosert, Fachverantwortlicher für die molekulare Diagnostik der klinischen Virologie am Universitätsspital Basel. Das heißt, Ungeimpfte können in Einzelfällen an sogenannter Impfpolio erkranken.

Infektionsradar zeigt Viruslast im Abwasser

Ohne die Proben aus dem Abwasser wüssten wir derzeit nichts von den zirkulierenden Viren aus der Polioimpfung. Nicht nur in diesem Fall können unsere Abwässer als Frühwarnsystem dafür genutzt werden, welche Krankheiten wo in der Bevölkerung kursieren. Denn Erreger, die mit Kot, Urin oder Speichel ausgeschieden werden, finden mit Sicherheit ihren Weg dorthin. In Abwasserproben lassen sich Infektionswellen zumeist schon feststellen, bevor vermehrt Menschen mit diesen Krankheiten zum Arzt gehen. In Deutschland werden derzeit regelmäßig Proben aus knapp 170 Kläranlagen genommen und auf Sars-CoV-2, also den Erreger von Covid-19, sowie die saisonalen Grippeviren Influenza A und B getestet. So kann das aktuelle Infektionsgeschehen abgebildet werden, auch wenn sich nur noch wenige Menschen selbst testen. Die Viruslast im Abwasser wird auch im Infektionsradar des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) veröffentlicht.

Während der Abwassertest auf Sars-CoV-2 und Influenza gut kombinierbar ist, sind die Untersuchungen auf Polio laut RKI aufwendiger, da die Viren – wenn überhaupt vorhanden – nur in sehr geringer Konzentration vorkommen. Daher müssen sie erst über Zellkultur vermehrt werden, bevor sie mit molekularbiologischen Methoden analysiert werden können.

Beim Abwassermonitoring auf Coronaviren im Zuge der Pandemie waren andere Länder weitaus schneller als Deutschland, etwa die Niederlande, Österreich, die Schweiz und Frankreich. Hierzulande wurde die Abwasserüberwachung ab Februar 2022 zunächst im Pilotbetrieb in 56 Kläranlagen getestet. Ab Mai 2023 folgte das »Abwassermonitoring für die epidemiologische Lagebewertung«, kurz Amelag, ein Kooperationsprojekt von Umweltbundesamt (UBA) und RKI. »An den knapp 170 Kläranlagen nehmen wir zweimal pro Woche eine 24-Stunden-Mischprobe, die bei vier Grad gekühlt ins Labor gebracht und dort extrahiert und aufbereitet wird. Die Ergebnisse der PCR-Analyse werden dann in eine Datenplattform eingespeist«, erläutert Ulrike Braun, Fachgebietsleiterin für Abwasseranalytik und Überwachungsverfahren beim UBA. Die weitere Auswertung der Daten obliegt dem RKI.

Ganz so einfach, wie das zunächst klingt, ist es dann doch nicht: »Die Konzentration von Sars-CoV-2 im Abwasser kann durch Veränderungen der Abwasserzusammensetzung beispielsweise durch Regenereignisse stark beeinflusst werden. Die Trenderkennung wird dadurch erschwert«, heißt es beim UBA. Daher muss die Viruslast im Abwasser »normalisiert« werden. Das bedeutet, dass die Schwankungen der Abwassermenge und damit auch der Zusammensetzung der Abwasserbestandteile ausgeglichen werden.

Auch RSV-Infektionsgeschehen soll künftig überwacht werden

Im kommenden Jahr soll das Monitoring auf einen weiteren verbreiteten Erreger ausgeweitet werden, das Respiratorische Synzytial-Virus, kurz RSV. »Die Methoden für die Überwachung von RSV im Abwasser sind entwickelt und werden aktuell getestet«, sagt RKI-Pressesprecherin Susanne Glasmacher auf nd-Anfrage. Das Virus verursacht Atemwegsinfektionen und bereitet vor allem Säuglingen, insbesondere Frühgeborenen, Kleinkindern sowie älteren Erwachsenen Probleme. Im Sommer 2023 wurden in der EU erstmals zwei Impfstoffe gegen RSV zugelassen.

Im Fall neuer Epidemien ließen sich Abwasseruntersuchungen auch auf andere Viren ausweiten. Und Viren, die hierzulande noch keine Rolle spielen, könnten das künftig tun, etwa aufgrund der Klimaerwärmung. In anderen Ländern würden viele verschiedene Erreger überwacht, etwa von Masern oder Dengue, erklärt Glasmacher. Bevor neue Testroutinen etabliert würden, müssten die entsprechenden Methoden aber erst validiert werden. »Wir haben Ansätze aufgebaut hinsichtlich Mpox und der Vogelgrippe«, sagt Ulrike Braun vom UBA. Doch das Problem sei der Praxistest: »Wir brauchen heftige Infektionswellen, um überhaupt etwas messen zu können.«

Auch zu einer weiteren wachsenden Gesundheitsgefahr könnte das Abwasser Informationen liefern: antibiotikaresistente Bakterien. Diese werden auch als »Krankenhauskeime« bezeichnet, weil sie sich oftmals in Krankenhäusern ausbreiten, wenn keine ausreichenden Hygienemaßnahmen ergriffen werden. In einem Forschungsprojekt arbeitet das RKI an einem Frühwarnsystem für Antibiotikaresistenzen in Abwässern. Die Forschung konzentriert sich nach Angaben des Instituts auf Resistenzen bei Enterobakterien auf Reserveantibiotika aus der Gruppe der Carbapeneme in der Modellregion Großraum Leipzig. »Die nachgewiesenen Resistenzen werden mit Daten aus benachbarten medizinischen Einrichtungen abgeglichen, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse klinische und öffentliche Gesundheitsrelevanz haben«, heißt es dazu beim RKI. Diese Plausibilitätsprüfung ist wichtig, da Bakterien untereinander Gene austauschen können. Werden Resistenzgene gefunden, dann könnten diese auch aus dem Biofilm im Abwasser stammen, gibt Braun zu bedenken.

EU-Richtlinie verlangt neue Abwasseruntersuchungen

Eine Untersuchung auf »antimikrobielle Resistenzen« (von denen antibiotikaresistente Bakterien ein Teilbereich sind) wird auch mit der Anfang November verabschiedeten EU-Kommunalabwasserrichtlinie vorgeschrieben. Spätestens in zwei Jahren müssen hierfür Verfahren in Siedlungsgebieten mit mehr als 100 000 Einwohner*innen etabliert werden. Aber auch die Ermittlung der Viruslast von Sars-CoV-2, Polio, Influenza und neu auftretenden Krankheitserregern soll mit der Richtlinie europäischer Standard werden.

In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, dass das Projekt Amelag über das Ende des Jahres 2024 fortgeführt wird, wenn auch zunächst nur während der vorläufigen Haushaltsführung, wie das »Ärzteblatt« berichtet. Die reguläre Laufzeit endet am 31. Dezember, eine Anschlussfinanzierung hätte eigentlich Gegenstand des parlamentarischen Haushaltsverfahrens sein sollen. Aufgrund des Bruchs der Ampel-Regierung konnte dieses nicht mehr stattfinden. Unter anderem von Long Covid Betroffene hatten befürchtet, dass die Regierung Amelag nicht weiter finanzieren würde. Mit einer Petition sollte die Bundesregierung zu einer Verlängerung bewogen werden.

Das BMG rechnet laut Ärzteblatt mit jährlichen Kosten in Höhe von circa fünf Millionen Euro, um die Überwachung von Sars-CoV-2, Influenza und RSV im Abwasser fortzuführen. Weitere Kosten fielen auf kommunaler und auf Länderebene für die Beprobung in den Kläranlagen an. Vonseiten des RKI heißt es wiederum, dass weitere Mittel für die Forschung notwendig seien, über die im Haushaltsverfahren beraten werden müsse. Das wird im kommenden Jahr Aufgabe einer neuen Bundesregierung sein.

»Wir brauchen heftige Infektionswellen, um überhaupt etwas messen zu können.«

Ulrike Braun Umweltbundesamt
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