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»Der Abbruch der Beziehungen zu den Taliban wäre das Minimum«
Ein Gespräch mit Sur Esrafil über die Geschichte der Frauenrechte und gesellschaftliche Spaltungen in Afghanistan - und ihre Wünsche an den Feminismus
Frau Esrafil, was ist Ihr Bezug zu Afghanistan?
Ich wurde dort geboren, musste aber als Kind in den Iran auswandern. 2003 kehrte ich nach Afghanistan zurück, um dort zu studieren. Ich studierte Islamwissenschaften und Jura und begann, als Rechtsanwältin in einer Kanzlei zu arbeiten. Aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit sah ich mich jedoch 2013 wieder gezwungen, das Land zu verlassen, da meine Sicherheit gefährdet war. Als ich 2014 nach langer Reise in Deutschland ankam, fanden gerade die dritten Präsidentschaftswahlen in Afghanistan statt und es war bereits spürbar, dass die Taliban zurückkehren könnten. Innerhalb der Kreise, die mit der Regierung und den Ministerien zusammenarbeiteten – insbesondere im juristischen und zivilgesellschaftlichen Bereich – war das Gefühl weit verbreitet, dass sich die politische Lage verschärfte. Auch gesellschaftlich und kulturell spiegelte sich diese Entwicklung wider, zum Beispiel tauchten in großen Einkaufszentren immer mehr Geschäfte auf, die Ganzkörperverschleierungen im Stil der Golfstaaten anboten. Es gab einen zunehmenden Druck zu immer restriktiverer Kleidung, Frauen sollten nun mehr als nur ein einfaches Kopftuch tragen. Politisch war diese Stimmung ebenfalls spürbar. Im akademischen Bereich setzten einige private Hochschulen bereits die Segregation von Frauen und Männern in den Klassenräumen durch und propagierten dies auch an öffentlichen Universitäten. Sie argumentierten, dass eine solche Trennung dazu beitragen würde, dass mehr Frauen die Hochschule besuchen. Diese Entwicklung war ein weiteres Zeichen dafür, dass sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Afghanistan zunehmend verschlechterten.
In welchen Rechtsgebieten waren Sie als Anwältin tätig? Wie sah Ihr Arbeitsalltag aus?
Meine Gebiete waren Strafrecht und Familienrecht. Meine Arbeit war zwar gut bezahlt, aber auch hart und herausfordernd, unter anderem, weil das Arbeitsumfeld stark männerdominiert war. Wenn ich zum Beispiel meine Mandantinnen im Gefängnis besuchte oder mit Staatsanwälten und Richtern arbeitete, war die Mehrheit männlich. Zusätzlich gehöre ich der Hazara-Minderheit an, während die Richter meist Paschtunen oder Tadschiken waren. Dadurch musste ich mich sowohl als Frau als auch als Angehörige einer unterdrückten Volksgruppe durchsetzen. Es war nahezu unmöglich, als Hazara Jura zu studieren oder in diesem Bereich aufzusteigen, weshalb es nur wenige Hazara-Staatsanwälte oder -Richter gab. Eine Zusammenarbeit zwischen den Volksgruppen wurde seltener, was sich auch auf die professionelle Zusammenarbeit mit Richtern und Staatsanwälten auswirkte.
Sie haben 2023 ein Buch über das Ende der Frauenrechte in Afghanistan mit herausgegeben. Welche Entwicklungen haben Sie in diesem Bereich erlebt? Wie war die Situation, als Sie 2014 das Land verließen?
Das Buch »Das Ende der Frauenrechte in Afghanistan« ist eine Sammlung von 15 Erfahrungsberichten von afghanischen Frauen während der Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021. Es sind Zeitzeuginnenberichte über den Verlust von Heimat sowie von Träumen. Frauen erzählen über ihre Evakuierungsgesuche bei ausländischen Botschaften, über die schrecklichen Zustände am Kabuler Flughafen, über die ersten Frauenproteste. Es sind Geschichten, die das Ende der Frauenrechte in Afghanistan erzählen.
Sur Esrafil, geboren in Kabul, ist Juristin, Autorin, Poetin und Aktivistin. Sie lebt seit 2017 in Berlin, wo sie sich für Frauen in ihrer Heimat und für Geflüchtete in Deutschland engagiert. Sie ist Mitherausgeberin des Buches »Das Ende der Frauenrechte in Afghanistan«, das im Mai 2024 im Unrast Verlag erschien.
Können Sie das etwas ausführen?
Die Geschichte der Frauenrechte in Afghanistan begann schon im 20. Jahrhundert, während der Herrschaft von König Amanullah, der von 1919 bis 1929 regierte. In der Zeit erhielten Frauen auch das Wahlrecht. Über die Jahrzehnte schritt diese Entwicklung immer weiter voran und in den 1980er Jahren, also während der Sowjetbesatzung, wurde noch einmal ein großer Schritt nach vorne gemacht: Frauen traten in den Arbeitsmarkt ein und konnten ihr eigenes Geld verdienen. Und zwar nicht nur Frauen des Bürgertums, sondern auch proletarische, bildungsferne Frauen, die im Handwerk oder in der Agrarwirtschaft gearbeitet haben. Das Ganze endete abrupt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als 1992 die sogenannten Gotteskrieger, die Mudschaheddin die Herrschaft in Afghanistan übernahmen. Und mit der Machtübernahme der Taliban, also von 1996 bis quasi zum 11. September 2001, wurden die Frauenrechte sozusagen auf null reduziert: Den Frauen wurden nicht nur einige Rechte entzogen, sondern die Taliban schnitten sie im Prinzip von allen Rechten ab, machte die Frauen also rechtlos. Sie durften noch nicht einmal das Haus verlassen.
Das klingt ja sehr ähnlich zu der aktuellen Situation ...
Genau – dazu kommen wir gleich noch. Erstmal wurde im Oktober 2001, nach der US-geführten Invasion Afghanistans, die Gleichstellung von Männern und Frauen in die afghanische Verfassung aufgenommen. Afghanistan unterzeichnete zudem zahlreiche internationale Abkommen zum Schutz der Frauenrechte. Doch nach dem Sturz der Regierung und dem Abzug der US-Truppen im August 2021, als die Taliban Kabul einnahmen, verschlechterte sich die Lage erneut. Es ist übrigens wichtig zu betonen, dass nicht nur die USA, sondern auch viele europäische Länder an dem Afghanistan-Einsatz beteiligt waren.
Ja, zum Beispiel Deutschland. Welche gesellschaftlichen Akteure in Afghanistan haben denn die konservativen Interessen vor dem Abzug der Nato gefördert, wie Sie es vorhin beschrieben haben? Und wie war das Verhältnis der Taliban zur Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt?
Die Stimmung in Afghanistan war bereits spürbar, als ausländische Truppen, insbesondere die amerikanischen, ihre Präsenz verringern wollten. Viele ministerielle Posten waren von Exil-Afghanen besetzt, die oft nach dem Ende ihrer Amtszeit das Land verließen. Dieses Vorgehen war nicht nachhaltig und führten dazu, dass sich die Bevölkerung nicht mit der Regierung identifizieren konnte. Die Regierung wurde im Wesentlichen vom Ausland eingesetzt, was das Vertrauen in den Staat weiter schwinden ließ. Korruption spielte dabei eine große Rolle, und die Distanz zwischen der Bevölkerung und der Regierung wuchs immer weiter. Ein anderer wichtiger Aspekt war der Unterschied zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung. Afghanistan ist vorwiegend agrarisch geprägt, und die Gesellschaft ist daher sehr konservativ. Die traditionellen Rollen von Männern und Frauen sind kulturell und religiös festgelegt. Die Fortschritte in Bezug auf die Rechte der Frauen betrafen hauptsächlich die städtischen Gebiete, wo es in den letzten Jahrzehnten auch Verbesserungen gab. Nach der Invasion durch die Nato und dem darauffolgenden Staatsaufbau gab es, wie gesagt, einen radikalen Umbruch, als Frauen und Männer gleichgestellt wurden und plötzlich wieder gemeinsam in öffentlichen Räumen wie der Universität oder am Arbeitsplatz saßen. Diese Veränderungen stießen jedoch auf große Skepsis bei der Bevölkerung. Es wurden Videos und Berichte veröffentlicht, die Frauen zeigten, die sangen, tanzten oder in den Medien auftraten – Dinge, die für die ländliche Bevölkerung völlig unverständlich und inakzeptabel waren. Zudem gab es Berichte über Partys und andere Verhaltensweisen von Regierungsmitarbeitern, die in starkem Widerspruch zu den traditionellen Werten standen. Dies verstärkte die Kluft zwischen der Landbevölkerung und der städtischen Elite, die oft als abgehoben und entfremdet von den realen Gegebenheiten des Landes wahrgenommen wurde. Das Misstrauen gegenüber der Regierung wuchs, da viele der in der Regierung tätigen Personen als Fremde wahrgenommen und wenig mit den tatsächlichen Werten und Traditionen Afghanistans verbunden angesehen wurden.
Was sind denn die Gründe für diese große Verschiedenheit zwischen Stadt und Land?
Ein Grund für die Skepsis der Landbevölkerung gegenüber der Stadtbevölkerung war die große sozioökonomische Kluft. Die Landbevölkerung hatte wenig von den 20 Jahren ausländischer Präsenz und der Arbeit von NGOs gesehen. Diese Kluft wurde 2016 deutlich, als eine Frau in Kabul gelyncht und verbrannt wurde. Ihr Name war Farkhunda Malikzada. Das grausame Ereignis fand zwar bemerkenswerterweise nicht in einem Dorf, sondern in der Hauptstadt statt, spiegelte aber dennoch diese Zuspitzung der gesellschaftlichen Spannungen wider. Die Tat ereignete sich fünf Jahre vor der Rückkehr der Taliban, in einer Stadt, die unter der Präsenz von Diplomaten und Sicherheitskräften stand. Diese Gewalttat zeigte, wie tief das Misstrauen und die Wut in der Bevölkerung gegenüber dem System und der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit verankert waren.
Gesellschaftliche Konflikte haben ja letztlich immer auch eine materielle Ursache. Könnte man sagen, dass die Taliban sich als Vertreter der Landbevölkerung und der »normalen« Afghanen darstellen, im Gegensatz zu einer westlich orientierten, reichen Oberschicht?
Die Taliban präsentieren sich als Vertreter der Landbevölkerung und konservativer Afghanen, die gegen eine städtische, westlich orientierte Elite kämpfen. Sie sehen sich als Gegner der »Handlanger des Westens«. Doch viele Afghanen, die nicht in Gefahr sind, waren weder mit der korrupten Republik noch mit den Taliban zufrieden. Die Taliban erlassen Dekrete und Gesetze, die den Menschen aufgezwungen werden, ohne deren Zustimmung. Zudem repräsentieren sie nicht alle Volksgruppen, sondern bevorzugen eine bestimmte ethnische und religiöse Gruppe. Neben den Hazara werden besonders die Schiiten und Tadschiken anders behandelt und benachteiligt. Es gibt keine Inklusion dieser Gruppen in die Machtstrukturen der Taliban und das Verhalten der Staatsgewalt variiert je nach ethnischer Zugehörigkeit.
Auch in Bezug auf die Frauen?
Ja. Ich kann jetzt natürlich nicht alle Situationen benennen, in denen Frauen verschieden behandelt werden. Die Realität ist, dass es zum Beispiel Einschränkungen gibt, die die Teilnahme von Frauen an der Gesellschaft betreffen und bei denen der Staat keinen Unterschied macht. Dazu gehört, dass sie nicht zur Schule gehen, nicht arbeiten und viele andere Dinge nicht tun können. Schauen wir uns zum Beispiel das Schicksal der Frauen an – und das ist alles dokumentiert worden: Wenn eine paschtunische Frau festgenommen wurde, diese wird dann entweder sofort freigelassen, oder zur Bestrafung ihren männlichen Verwandten übergeben. Hingegen eine Hazara-Frau oder eine tadschikische Frau, diese werden über Monate festgehalten, sie werden vergewaltigt, sie werden misshandelt. Mit ihnen geht man anders um als mit Frauen, die der paschtunischen Volksgruppe angehören.
...und damit der gesellschaftlichen Elite?
Die Paschtunen sind erstmal eine Volksgruppe, aber seit dem Bestehen Afghanistans die dominante Gruppe. Die Führung und auch die Kämpfer der Taliban sind zu über 90 Prozent paschtunisch. Das bedeutet, dass paschtunische Frauen, die etwa an Protesten teilnehmen, zur Bestrafung ihrer Familie übergeben werden. Frauen aus anderen Volksgruppen hingegen werden festgenommen, gefoltert, vergewaltigt oder verschwinden sogar.
Ist das also eine Form von Diskriminierung, welche die Sicherung von Herrschaft bewerkstelligen soll?
Die Geschichte Afghanistans ist geprägt von der Dominanz der Paschtunen, die auch die Herrschaft im Land haben und sich darauf berufen, dass Afghanistan nach den »Afghanen« benannt ist. Die Taliban sind eine Mischung aus radikal-islamischer Bewegung und paschtunischem Nationalismus. Ihr Weltbild stellt den paschtunischen Mann als die zentrale Figur in der Gesellschaft dar, während andere Volksgruppen als Minderheiten oder »Zufallserscheinungen« betrachtet werden, die sich unterzuordnen haben. In diesem chauvinistischen und patriarchalen Weltbild haben Frauen keinen Platz.
In der Behandlung der Frauen gibt es einen weiteren Unterschied: Paschtunische Frauen genießen in gewisser Weise »Gnade«, und ihre Angelegenheiten werden von der Familie geregelt. Frauen aus anderen Volksgruppen, wie den Hazara oder Tadschiken jedoch werden brutal behandelt – sie werden ebenso gefoltert und vergewaltigt, aber zudem werden bestehende Gesetze gebrochen, um sie zu unterdrücken. Diese Praxis spiegelt die rassistische und diskriminierende Haltung der Taliban wider, die sich auf ihren paschtunischen Nationalismus stützen. In Afghanistan gibt es derzeit eine wachsende Diskussion über die Unterdrückung der Minderheiten und die brutale Behandlung anderer ethnischer Gruppen. Es gibt gezielte Vertreibungen, bei denen Menschen aus ihren Dörfern vertrieben und ihre Häuser beschlagnahmt werden – eine Art Siedlungspolitik, bei der Menschen aus der eigenen Volksgruppe an deren Stelle gesetzt werden. Diese Maßnahmen führen zu einer systematischen Verdrängung und Vernichtung von Volksgruppen, die nicht zur paschtunischen Gruppe gehören.
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Das ist das Projekt der Taliban?
Die Taliban bevorzugen paschtunische Siedler und sogar Menschen aus Pakistan, die nicht in Afghanistan leben. Diese Praxis betrifft alle Volksgruppen, besonders die Hazara. Ein weiteres Beispiel für ihre Politik war die Zerstörung der Buddha-Statuen während ihrer ersten Herrschaft. Die Taliban wollen die Geschichte Afghanistans auslöschen und behaupten, dass nur ihre Kultur und ihre Volksgruppe auf dem Territorium Afghanistans existiert haben. Dies betrifft besonders die Hazara, deren historische Verbindung zum Buddhismus sie negieren. In ihrem Weltbild passen solche historischen Spuren nicht zu Afghanistan und werden bewusst ausradiert.
Ich möchte nun noch einmal auf die gegenwärtige Situation hier in Deutschland zu sprechen kommen. Was denken Sie über das Konstrukt einer »feministischen Außenpolitik«?
Die Politik der Bundesregierung wirkt oft mehr wie Schein als Sein, besonders in Bezug auf Afghanistan. Zwar werden offizielle Kontakte zu Afghanistan vermieden, doch inoffiziell wird mit den Taliban verhandelt – etwa im Kontext von Abschiebungen. Diese Verhandlungen bekommen nun auch einen offiziellen Charakter, da die afghanische Botschaft inzwischen de facto unter die Kontrolle der Taliban übergegangen ist. Diese Entwicklung fällt direkt in die Zuständigkeit des Auswärtigen Amts von Frau Baerbock, was die Widersprüche der deutschen Außenpolitik verdeutlicht.
Afghanische Frauen organisieren sich in Chatgruppen, um dort Protestvideos zu teilen. Sie fordern, dass andere Staaten nicht mit den Taliban zusammenarbeiten. Was erhoffen sich die Frauen von einem Abbruch der Zusammenarbeit?
Zunächst einmal: Der Hauptgrund für den Protest über Online-Plattformen ist, dass viele Frauen ihre Sicherheit gefährdet sehen, sowohl die Geflüchteten als auch die noch in Afghanistan aktiven. Wenn sie öffentlich protestieren, werden sie festgenommen, gefoltert und vergewaltigt, ohne dass die internationale Gemeinschaft eingreift. Ihre Forderung, keine diplomatischen Beziehungen zu den Taliban aufzubauen, basiert auf dem Wissen, dass jegliche Zusammenarbeit die Situation der Frauen weiter verschlechtert. Der Abbruch der Beziehungen zu den Taliban wird von den Frauen als das Minimum angesehen, aber es ist zugleich eigentlich auch eine Maximalforderung: Sobald andere Staaten die Taliban anerkennen, kann es keine weiteren Forderungen geben, weil dann alle Hoffnungen auf Veränderung verloren sind. Eine offizielle Anerkennung der Taliban durch die internationale Gemeinschaft würde das Schicksal der Frauen in Afghanistan besiegeln. In den letzten drei Jahren haben sich die Rechte der Frauen dort drastisch verschlechtert. Die Taliban halten sich weder an die Verfassung von 2021 noch haben sie eine neue erlassen. Stattdessen regieren sie weiterhin nach ihrer Interpretation der Scharia. Mädchen dürfen ab einem bestimmten Alter nicht zur Schule gehen, und die Rechte der Frauen werden zunehmend beschnitten. Kürzlich haben die Taliban sogar angeordnet, dass Bücher von Frauen aus Buchhandlungen und Bibliotheken entfernt werden sollen. Diese Entwicklungen zeigen, dass die Situation immer verzweifelter wird. Wenn die Frauen in Afghanistan nach Hilfe rufen und ihre Wut ausdrücken, geht es nicht nur um den Zugang zu Bildung oder Arbeit. Es geht um das Überleben und darum, dass ihre Stimmen und ihr Leben zunehmend erstickt werden.
Die Radikalität der misogynen Politik der Taliban wirft die Frage auf, wo das eigentlich hinführen soll. Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist zum Beispiel stark eingeschränkt, Frauen dürfen weder zu Ärzten noch zu gynäkologischen Untersuchungen gehen. Wo soll das enden?
Die Frage, wie die Zukunft unter den Taliban aussehen kann, bleibt offen. Diese Gruppe, die nach wie vor als Terrororganisation gilt, erhält massive finanzielle Hilfe und wird in bestimmten Kontexten auch zu Verhandlungspartnern, etwa bei Abschiebungen. Dass mit einer Organisation verhandelt wird, die als Vorbild für die Hamas dient und eine extreme Form von Gender-Apartheid betreibt, ist ein Widerspruch. Diesen Paradoxien müssen sich Gesellschaften wie Deutschland und der Westen stellen.
Die islamistische Bewegung wird häufig als eine Reaktion auf westliche oder US-amerikanische Dominanz verstanden. Doch inwiefern ist die frauenfeindliche Politik der Taliban auch eine bewusste vermeintliche Abgrenzung vom westlichen Imperialismus?
Hier haben Sie einen wichtigen Punkt angesprochen. Diese islamistischen Gruppen wurden während des Kalten Krieges von den USA ins Leben gerufen. Der »Blowback« kam später, als die Taliban und andere Gruppen nach dem Abzug der Sowjets die Macht ergriffen. Sie betrachteten die westlich orientierten, korrupten Regierungen in ihrer Region als Teil des Problems. Heute, trotz ihrer Terrorursprünge, werden diese Gruppen in einigen Fällen wieder als »Rebellen« gesehen und im Falle Afghanistans durch diplomatische Beziehungen anerkannt – was zeigt, wie weit die Konsequenzen dieser Entwicklungen reichen.
Das ist ja eine Ironie der Geschichte: Die USA marschierten 2001 in ein von den Taliban beherrschtes Land ein, die sie zuvor selbst bewaffnet hatten – gegen den Sozialismus, in dem die Frauenrechte garantiert waren. Diese Widersprüche sind besonders bemerkenswert, wenn man die Entwicklungen in Afghanistan im historischen Kontext betrachtet.
Frauenrechte und Menschenrechte spielen für die USA nur dann eine Rolle, wenn es in ihrem Interesse ist. Sie sind kein universelles Ziel, sondern werden oft nur im Kontext geopolitischer Interessen hervorgehoben. Letztlich bin ich aber mehr von Feministinnen weltweit enttäuscht als von Politikern.
Sie wünschen sich mehr Aufmerksamkeit für die Situation in Afghanistan?
Wenn ich an Proteste und Aktionen zu Themen wie Afghanistan denke, erwarte ich, dass Frauen weltweit Seite an Seite mit den afghanischen Frauen kämpfen. Solidarität sollte über nationale Grenzen hinweg bestehen, besonders für Frauen in Kriegsgebieten wie Afghanistan. Doch was ich oft sehe, ist, dass innerhalb des Feminismus keine echte Solidarität vorhanden ist. Es gibt ein Problembewusstsein, aber keine umfassende Unterstützung. Frauenthemen werden nur häppchenweise behandelt, und es fehlt an Einheit. Der Feminismus ist zudem zunehmend von Klassenspaltung geprägt, wobei er die gleichen sozialen Hierarchien reproduziert, die er ursprünglich bekämpfen wollte.
Frauenrechte sind kein universelles Ziel, sondern werden oft nur im Kontext geopolitischer Interessen hervorgehoben.
Sur Esrafil
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