Unterklassen ohne Kämpfe

Der Soziologe Loïc Wacquant sprach in den Adorno-Lectures in Frankfurt über den strafenden Staat und seine Feldforschung unter Staatsanwälten

In Los Angeles sind etwa 50 000 Menschen obdachlos. Die städtische Armut gilt längst nicht mehr als soziales, sondern nur noch als Polizeiproblem.
In Los Angeles sind etwa 50 000 Menschen obdachlos. Die städtische Armut gilt längst nicht mehr als soziales, sondern nur noch als Polizeiproblem.

An Polizeigewalt haben sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder große Klassenbewegungen entzündet. In Frankreich sind die Aufstände, zu denen es nach der Ermordung von Jugendlichen durch die Polizei regelmäßig kommt, die wichtigste Protestform der städtischen Banlieues. Und die »Black-Lives-Matter«-Bewegung brachte in den USA 2020 um die 20 Millionen Menschen auf die Straße. Dabei ging es sehr schnell nicht mehr nur um Polizeiwillkür, sondern auch um die Masseninhaftierung von Armen und rassistische Repression im Allgemeinen.

Diese Kämpfe haben längst auch theoretisch Niederschlag gefunden. »Überwachen und Strafen«, das wohl berühmteste Buch des französischen Philosophen Michel Foucault, wäre ohne den Gefängnisaufstand von Attica 1971, bei dem die US-Regierung 39 Häftlinge erschießen ließ, nicht in dieser Form geschrieben worden. Noch deutlicher ist der Zusammenhang im Fall des Abolitionismus. Für schwarze Theoretiker*innen wie George Jackson oder neuerdings Ruth Wilson Gilmore steht die Überwindung des »Gefängnisstaats« (carceral state) in der Tradition des Kampfs gegen den Plantagenkapitalismus. Aus Sicht der Abolitionistinnen sind Polizeigewalt und Masseninhaftierung – ähnlich wie einst die Sklaverei – keine »Fehlentwicklungen«, sondern unverzichtbares Merkmal liberaler Gesellschaften. Die Einschränkung von Freiheitsrechten der Armen ist ihrer Ansicht nach ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Ordnung und der Ungleichheit zwischen den Klassen.

»Bestrafen der Armen«

Diesen Kontext muss man vor Augen haben, wenn man sinnvoll über die Arbeiten Loïc Wacquants diskutieren will. Der 1960 geborene französische Soziologe, der unter anderem in Chicago studierte und eng mit Pierre Bourdieu zusammenarbeitete, wurde von den US-Debatten um Gefängnisse, Polizeigewalt, Rassismus und Ungleichheit früh geprägt und verfolgt seit den 1990er Jahren vor allem zwei Forschungslinien: Auf der einen Seite beschäftigt er sich ethnographisch mit dem Leben nicht-weißer proletarischer Viertel in Frankreich und den USA, woraus auch Bücher über den Boxsport entstanden. Auf der anderen Seite hat sich Wacquant als Theoretiker des strafenden Staates profiliert und immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und dem explosionsartigen Anstieg der Gefängnispopulation hingewiesen. Denn fast überall in der westlichen Welt haben sich die Gefängnisse im selben Tempo gefüllt, wie Arbeitsverhältnisse prekärer wurden. Kamen in den USA 1970 auf 100 000 Bürger*innen noch 161 Gefängnisinsassen, so waren es 40 Jahre später fast fünfmal so viel.

Für Wacquant erklärt sich dieser Anstieg nicht mit der Zunahme der Kriminalität, sondern mit dem Bedürfnis des Staates, prekär werdende soziale Verhältnisse zu stabilisieren. Der französische Soziologe ist bei weitem nicht der einzige Autor, der diesen Zusammenhang beobachtet. Der britische Marxist Stuart Hall etwa zeichnete bereits 1978 in »Policing the Crisis« nach, wie Sicherheitsdiskurse ein Klima »moralischer Panik« erzeugen, in dem der wachsenden sozialen Instabilität mit Polizeimethoden begegnet werden kann. Und die bereits erwähnte US-Geografin Ruth Wilson Gilmore schrieb Ende der 1990er Jahre mit »Golden Gulag« eine politische Ökonomie des US-Gefängnissystems, in der sie dem Zusammenhang zwischen Überschussbevölkerung und Gefängnis-Boom nachging.

Wacquants Buch »Bestrafen der Armen«, das 2004 in der französischen Originalfassung erschien, kann durchaus als Meilenstein in diesem Theoriekontext gelten. Mit einer an Durkheim, Foucault und Bourdieu geschulten Perspektive zeichnet er nach, wie die neoliberale Offensive, die übrigens auch vom demokratischen Präsidenten Bill Clinton zu verantworten war, den Wohlfahrtsstaat gleichzeitig demontierte und umbaute. Wacquant zeigt auf, dass Strafverschärfungen die Gefängnispopulation wachsen ließen, und setzt sich dann mit den beiden wichtigsten Zielgruppen der Kriminalisierungswelle auseinander: dem schwarzen Proletariat der städtischen Armenviertel und den Sexualstraftätern.

Die Beschäftigung mit dem Rassismus gehörte daher von Anfang an zu Wacquants Projekt. Seit den 1990er Jahren wies er immer wieder darauf hin, wie sehr das neoliberale Armuts- und Strafregime, übrigens auch in Europa, ethnisch ausdifferenziert ist. In seinem aktuellsten Buch (»Jim Crow. Le terrorisme de caste en Amérique«, 2024) beschreibt er die rassistische Gewaltherrschaft, die nach Abschaffung der Sklaverei in den USA 1865 errichtet wurde und die die Lebensverhältnisse vor allem im Süden der USA bis heute prägt. Wacquant gelangt zu dem Urteil, dass sich »weder in Südafrika bis zum Ende der Apartheid 1991 noch in Nazideutschland von den ersten antijüdischen Gesetzen 1933 bis zum Kriegsbeginn 1939 (…) ein Kasten-Regime zu Friedenszeiten derart auf körperlichen Zwang und mörderische Brutalität stützte wie das Jim-Crow-Regime in den Südstaaten der USA«.

Der strafende Staat

In seinen Adorno-Lectures, die der in Kalifornien lehrende Soziologe vergangene Woche auf Einladung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main hielt, versuchte Wacquant noch einmal eine Gesamtperspektive auf den strafenden Staat zu entwickeln. Es gehe ihm um die Frage, wie der neoliberale Staat »mit seinem erweiterten Strafapparat die Formierung und das Schicksal des ›Prekariats‹ beeinflusst – also der prekären Teile des postindustriellen Proletariats, die in den abgehängten Vierteln der dualisierenden Metropolen gefangen sind und das Hauptziel des strafenden Staates darstellen«.

In den sich über drei Abenden erstreckenden Vorlesungen zeichnete Wacquant zunächst unterschiedliche theoretische Herleitungen des Strafsystems nach. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dabei dem Bourdieuschen Bild der »zwei Hände des strafenden Staates«. Die linke sei die schützende Seite des Leviathan, die rechte die disziplinierende. Der strafende Staat besitze, so Wacquant, damit einen Januskopf und stelle zwei unterschiedliche »Dienste« zur Verfügung.

Wacquant distanziert sich nicht einfach von den politischen Schlussfolgerungen des Abolitionismus, sondern blendet diesen regelrecht aus.

Im zweiten Block, in dem er an seine frühen Forschungen anknüpfte, stellte Wacquant den Bedeutungsgewinn und die rassistische Ausdifferenzierung des Gefängnissystems im Neoliberalismus dar. Interessant an diesem Teil war vor allem, dass hier noch einmal vergleichendes empirisches Material herangezogen wurde, das deutlich machte, wie sehr der Trend zur Massenkriminalisierung inzwischen auch europäische Staaten erfasst hat.

Die dritte Vorlesung schließlich widmete Wacquant einer aktuellen ethnografischen Feldstudie unter Staatsanwälten in den USA. Über drei Jahre habe er den kalifornischen Justizapparat begleiten und mehr als 100 Stunden Verhandlungen zwischen Staatsanwaltschaft und Anwält*innen mitzeichnen dürfen, so Wacquant. Daraus entwickelte der Soziologe gewissermaßen eine Innenperspektive des strafenden Staates, womit er die Perspektive seiner frühen Forschungen – auf der Seite rassistisch Marginalisierter – gewissermaßen auf den Kopf stellt.

Zum Abschluss der Vorlesungsreihe erklärte Wacquant, dass er auf Ratschläge zur Reform des Justizapparates verzichten wolle, unterbreitete dann aber einen – überraschend traditionalistischen – Vorschlag zur Kriminalitätsbekämpfung: »Wenn der Staat die Ausbreitung der Prekarität und des städtischen Verfalls zulässt, nährt er die soziale, moralische und symbolische Unordnung, auf die er dann mit dem Einsatz seines Strafapparats reagiert, um die lokalen Probleme einzudämmen. Doch die Bestrafung der disruptiven Armut verschlimmert nur Elend und Unordnung (…) wodurch die Kausalsequenz erneut in Gang gesetzt wird.« Wacquants politisches Fazit lief, so könnte man sagen, auf ein Kurzplädoyer für den Wohlfahrtsstaat hinaus.

Debatten um Wacquant

Um Wacquants Arbeit haben sich in letzten Jahren vor allem zwei Debatten entzündet, die auch in Frankfurt im Anschluss an die Lectures kurz aufflackerten. Die erste hat mit einer vernichtenden Kritik zu tun, die Wacquant vor einem Jahr am Begriff des »racial capitalism« formulierte. Mit dem Konzept des »rassifizierenden Kapitalismus« macht eine (durchaus plurale) Strömung der materialistischen Rassismusforschung auf die unauflösbare Verschränkung von modernem Kapitalismus und gewaltsamer Aneignung durch rassistische Regime aufmerksam. Wacquant lehnt den Begriff des »racial capitalism« ab, weil dieser seiner Meinung nach den Fokus vom Kapitalismus weglenke, der ihm zufolge auch nicht-rassistisch existieren könne.

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Die zweite Debatte verläuft gewissermaßen parallel dazu und hat mit Wacquants Perspektive auf Armut, Rassismus und Gefängnissystem zu tun. Genau diese Fragen treiben nämlich auch den Abolitionismus um, der als politisch-theoretische Strömung in den letzten Jahren spürbar an Bedeutung gewonnen hat und den »karzeralen Staat« nicht nur analysieren, sondern auch überwinden will. Wacquant distanziert sich nicht einfach von den politischen Schlussfolgerungen dieses Ansatzes, der auch die Staatsvorstellungen der Linken hinterfragt, sondern blendet ihn regelrecht aus. In beiden Debatten nährt Wacquant damit den Eindruck, dass er sich zwar intensiv mit Unterklassen und Rassismus beschäftigt, aber zentrale politische Subjekte auf diesem Feld unsichtbar macht oder ihre Positionen vereinfacht darstellt.

Man kann vermutlich länger darüber debattieren, ob Wacquants neues Interesse an einer Ethnografie der Staatsanwaltschaften mit der relativen Abwesenheit sozialer Kämpfe in seinen Arbeiten in Verbindung steht. Sicher ist allerdings, dass der französische Soziologe nicht als »der« Vertreter der Repressions- und Gefängniskritik im Neoliberalismus kanonisiert werden sollte. Um Wacquants Beitrag angemessen würdigen zu können, müsste man sich parallel dazu mit jenen Ansätzen materialistischer und abolitionistischer Rassismuskritik beschäftigen, die (anders als der schwarze Liberalismus) im deutschen Diskurs- und Wissenschaftsbetrieb immer noch nicht recht angekommen sind. Vielleicht wagt es das Institut für Sozialforschung, die Debatte in diese Richtung noch einen Schritt weiter zu treiben.

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