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Last Christmas
Was ist zu tun, um sich vom grassierenden Weihnachtsirrsinn komplett abzukapseln? Hier ein paar praktische Tipps
Die Spekulatiuskekse, Lebkuchen, Dominosteine und Christstollen in den Regalen hatte ich dieses Jahr übersehen. Für gewöhnlich sind sie die erste offene Warnung, dass es bald soweit sein wird. Ein drastisches visuelles Signal für jene Minderheit, die dem alljährlich wiederkehrenden Weihnachtsfanatismus und -faschismus trotzt: »Bringt euch in Sicherheit, solange noch Zeit dazu ist.« Schon kurz danach verstopfen rot-weiße Kunstfaser-Weihnachtsmützen und Raumsprayflakons (»Vanille-Crème-brûlée Spezial«) die Warenhausregale.
Doch ich war unachtsam, abgelenkt vom beständigen Dauerterror der Jetztzeit (Hamas, Trump, Merz), in der wir dazu verurteilt sind, uns unablässig zu bemühen, bei Verstand zu bleiben, um nicht auch verrückt zu werden wie die anderen.
Nicht ausgeschlossen, dass ich dieses Jahr den unabwendbaren Schrecken erst sehr spät zur Kenntnis genommen hätte. Womöglich erst jetzt, wo mir am Hermannplatz der erste an der dortigen Filiale der Deutschen Bank angebrachte Streifen Lametta unbarmherzig ins Auge glitzert und an der Stelle, wo die gewaltig gewachsene Zahl der Obdachlosen nächtigt, an einem Pop-Up-Stand die Badezusätze »Adventszauber« und »Waldweihnachtstraum« feilgeboten werden.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Dieses Jahr fing es bei mir mit dem Toilettenpapier an. Ich erwarb es arglos im Supermarkt, schleppte es nach Hause, riss die Plastikfolie auf, in die es verpackt war, und musste feststellen, dass es bedruckt ist: mit Schneemann- und Tannenzweig-Motiven. Das war die Erinnerung daran, dass das nackte Grauen (»die schönste Zeit des Jahres«) unmittelbar bevorsteht und es kein Entrinnen mehr gibt. Die nächste Eskalationsstufe ist erreicht, wenn im Radio stündlich »Last Christmas« abgespielt wird und es in den Notaufnahmen der Krankenhäuser trotzdem nicht zum Äußersten kommt. Wenn dann die Glühweinstände und Weihnachtsmärkte eröffnen, um sozusagen den Sack endgültig zuzumachen, ist es jedenfalls zu spät. Der Ausnahmezustand ist dann nicht mehr abzuwenden.
Nur zwei Möglichkeiten hat man von jetzt an: Man verlässt bis mindestens 7. Januar die Wohnung nicht mehr (was aus verschiedenen Gründen vermutlich für die meisten Menschen schwer zu machen sein dürfte) oder man verreist in irgendeine Einöde (Leuchtturm, Höhle, Berghütte, unbewohntes Eiland). Was sich jedoch als Schwierigkeit darstellt in einer Zeit wie der unseren, in der man selbst in der tiefsten uckermärkischen Wildnis oder neben dem hinterletzten Einödhof im schwäbischen Niemandsland nicht davor geschützt ist, auf eine Douglas-Filiale oder einen Ulf-Poschardt-Kommentar zu stoßen.
In jedem Fall empfiehlt es sich, vorher sicherzustellen, dass man garantiert keinerlei Verbindung zur sogenannten Zivilisation herstellen kann: kein Telefon, keine Internetverbindung, kein Computer, kein Tablet, kein Faxgerät, auch kein Radio-, TV- oder Videowiedergabe-Gerät. Jetzt kann ihnen niemand mehr Bilder von Adventskränzen und Zimtsternen schicken. Keiner kann Sie kontaktieren, um Sie zum Plätzchenbacken oder zu einem »weihnachtlichen Umtrunk« einzuladen. Auch die Gefahr, unvorbereitet auf eine Szene aus »Der kleine Lord« oder »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« zu stoßen, ist dann gleich null.
In jedem Fall empfiehlt es sich, vorher sicherzustellen, dass man garantiert keinerlei Verbindung zur sogenannten Zivilisation herstellen kann.
Die Zeit, die Jack und Wendy Torrance einst im eingeschneiten und von der Außenwelt vollständig abgeschnittenen Overlook-Hotel zugebracht haben, muss man sich – sofern in ihrem Universum in der Außenwelt gerade Weihnachten war – als eine schöne, friedvolle Zeit vorstellen: keine Nachbarn, die ungefragt süßlichen Gestank verströmende Duftkerzen vorbeibringen (Aroma »Frischer Keksteig«), keine »O du fröhliche«-Dauerbeschallung aus der nahegelegenen Einkaufspassage und keine Nachbarhäuser, an denen zentnerweise grellfarbene, aggressiv blinkende Lichterketten angebracht sind, die einen Vorgeschmack auf die Apokalypse geben.
Nicht vergessen: Jede Form der Kommunikationstechnik, vom Smartphone über das CB-Funkgerät bis zum Dosentelefon für Kinder, birgt dauerhaft die Gefahr eines Kontakts mit der vom Irrsinn der »besinnlichen Tage« kontaminierten Umwelt. Deshalb gilt: Nichts mitnehmen, alles ausschalten, alles vom Stromnetz nehmen. Nur so ist garantiert, dass kein weihnachtlicher Fremdkörper in Ihr Versteck eindringen kann. Im Notfall immer griffbereit haben: Augenbinde, Schallschutzkopfhörer, Handfesseln und einen Silikon- oder Softshell-Helm (um nach einer unerwartet aufgetretenen Weihnachtskontamination Selbstverletzungen vorzubeugen).
Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft Weihnachten nicht vollständig unterbunden werden sollte. Sicher ist jedenfalls: Für die bevorstehende Zeit der Stille eignet sich der Filmklassiker »The Shining« von Stanley Kubrick besonders gut. Nicht vergessen, vorher eine flauschige Decke (ohne Rentier-Aufdruck) bereitzulegen und eine (nicht mit stilisierten Schneeflocken gemusterte) Porzellanschale mit Snacks (keine gebrannten Mandeln) vorzubereiten!
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