- Kultur
- Die gute Kolumne
Der Unterhemdmann und der Unterhosenmann
Ratschlag an die dörflichen Beobachter: den Blick einmal in der Großstadt umherschweifen lassen
In dem württembergischen 3000-Einwohner-Nest, in dem ich aufgewachsen bin, wussten die Leute immer Bescheid darüber, was gerade Dorfgespräch ist. Zum Beispiel der Sohn des lokalen Bäckers: Offiziell hatte er zwar Abitur, dennoch trug er dekorativ zerrissene Jeanshosen und einen Mohawk (in Deutschland als »Irokesenschnitt« bekannt). Oder sie fragten sich, wie lange es von den Eltern noch geduldet wird, dass die immer so stark geschminkte (»im Gesicht angemalte«) Tochter vom Huberbauer jedes Wochenende mit einem anderen Kerl durchs Dorf spazieren geht. Oder es wurde gemunkelt, dass der Herr Doktor Weinheber, der Arzt der Gemeinde, ein Techtelmechtel mit einer Zugezogenen hat, womöglich gar einer Evangelischen.
Weil das Leben der Provinzbewohner langweilig war und im Kern aus Arbeit (40-Stunden-Woche, Rasenmähen, Autowaschen, Hobbyraum ausbauen) und Pflichten (freiwillige Feuerwehr, Gottesdienstbesuch) bestand, mussten sie sich, wenn ihnen das Fernsehprogramm (Fußball-Bundesliga, »Lustige Musikanten«, »Wer wird Millionär?«) zu fad wurde, mit Klatsch und Tratsch über die Zeit retten: die ungezogenen Sprößlinge der anderen, die unangemessene Kleidung der anderen, das unangepasste Verhalten der anderen, das unkonventionelle oder unerlaubte Geschlechtsleben der anderen.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Einen Nachbarn gab’s, den Herrn Haberle, der täglich nach Feierabend niemals etwas anderes tat, als sein Lieblingskissen auf dem Fensterbrett vor seinem Küchenfenster zu platzieren, sich sein »Lord-Extra«-Zigarettenpäckchen danebenzulegen und die verbleibende Zeit des Tages damit zuzubringen, zu rauchen und, die verschränkten Arme aufs Kissen gelehnt, das Geschehen auf der Straße und in den Fenstern der Nachbarhäuser zu beobachten. Zu beobachten gab’s im Grunde nicht viel, denn die Rolläden vor den Fenstern der anderen waren oft geschlossen. Und auf den Straßen war außer einem gelangweilten Jugendlichen, der den Ball gegen das Garagentor kickte, und dem fehlerhaft geparkten Auto des milchbärtigen Herumtreibers, der neuerdings abends mit der Kleinen von nebenan Händchen hielt, nichts zu sehen. Es mag ein Klischee sein, dennoch ist es die Wahrheit: Bei seinen ausgedehnten Studien trug der Herr Haberle ausnahmslos ein ärmelloses weißes Unterhemd, einen so genannten Wifebeater.
Ich bin mir nicht sicher, ob es, um einer besseren Zukunft willen, nicht auch in ländlich geprägten Regionen Deutschlands zum Normalfall werden sollte, dass zwei Männer sich in der Öffentlichkeit küssen oder einander bei Bedarf zärtlich in den Schritt fassen. Oder dass ein anarchistischer Lesekreis eine »revolutionäre 1.-Mai-Demonstration« um die Dorfkirche herum veranstaltet, bei der diverse Staatssymbole oder religiöse Überzeugungen verunglimpft werden. Und zwar nicht nur, um Herrn Haberles Feierabend interessanter zu machen.
Sicher ist jedenfalls: Man möchte Herrn Haberle bedauern, weil er nie die Chance ergriffen hat, seinen Blick einmal in der Großstadt umherschweifen zu lassen. Was hätte es da nicht alles für ihn zu sehen gegeben! Zusammenrottungen von undeutsch aussehenden Müßiggängern, die Kauderwelsch sprechen! Vermummte Krawallmacher, die aus besetzten Häusern Gegenstände auf Ordnungskräfte werfen! Perverse Christopher-Street-Day-Paraden! Man denke sich nur: Erwachsene Menschen, die untenrum nichts tragen außer einer Art Lederetui ums Gemächt und zwei über die Pobacken gespannten Riemen, sodass die Spalte dazwischen frei bleibt! Sodom und Gomorrha, ohne dass bisher die Polizei eingeschritten wäre!
Das Schöne an Berlin war immer die niedrige Verfolgungsintensität. Soll heißen: Niemanden schert es, wie der andere aussieht oder wie er lebt. Ich erinnere mich beispielsweise mit einer gewissen Wehmut an den etwa 40-jährigen Mann, der mir, immer zur selben Uhrzeit, über mehrere Jahre hinweg mehrmals wöchentlich an der Bushaltestelle begegnete, an der ich täglich morgens stand. Der besagte Mann hatte einen exzentrischen Kleidungsstil, doch niemand unter den mit mir Wartenden schien Notiz davon zu nehmen oder sich daran zu stören. Gegen acht Uhr morgens lief er immer an uns vorüber. Er hatte schwere Armeestiefel an den Füßen und trug als einziges Kleidungsstück eine weiße Herrenunterhose (mit Eingriff), niemals etwas anderes, auch im Herbst und Winter nicht. Er grüßte uns, die an der Haltestelle Stehenden, nicht, und wir grüßten ihn nicht: klassischer Berlin-Style. Dennoch war man rasch aneinander gewöhnt. Jeden Morgen ahnte man im Stillen: »Aah, gleich ist’s acht, dann kommt der Kauz mit der Unterhose und den Armeestiefeln!« Und prompt trottete er um die Ecke.
Ihm wird’s womöglich ähnlich gegangen sein: »Aah, gleich biege ich hier um die Ecke, dann stehen da wieder diese unnötig dick in Textilien eingemummelten Leute an der Haltestelle herum, die kein wetterfestes Schuhwerk tragen!« Jedenfalls fällt mir immer dann, wenn ich an diese Zeit und die stummen morgendlichen Begegnungen mit dem Unterhosenmann zurückdenke, der alte Reklameslogan ein, mit dem in den 80er Jahren Westberlin um Touristen warb: »Berlin tut gut.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.