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Deutschland am Kipppunkt
Das Merz-Projekt einer »bürgerlichen Renaissance« und die Gefahr der Faschisierung
Immer weniger Menschen trauen den Parteien zu, die Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können. Die Krisen der letzten Jahre legten Prioritäten offen, die an den Lebenswirklichkeiten vieler vorbeigehen, lassen Grenzen des politischen Systems erfahrbar werden. Obwohl es sich hier um einen politischen Erfahrungszusammenhang handelt, der potenziell auch links gewendet werden könnte, gelingt es derzeit nur den Rechten, ihn erfolgreich aufzugreifen.
Vor unseren Augen entstehen Prozesse der Faschisierung. Das heißt nicht, dass ein neuer Faschismus unmittelbar vor der Tür stünde. Aber die autoritär-nationalistische Rechte erreicht – über den Kern von Menschen mit geschlossen rechtsextremem Weltbild hinaus – ein erweitertes Resonanzfeld von mindestens einem Viertel der Wahlberechtigten. Die AfD kann dieses Potenzial bereits weitgehend bündeln. Sie verspricht die Rückgewinnung von Kontrolle und Ordnung – durch einen Kultur- und Standortkrieg, frei nach dem Motto »Deutschland und Deutsche zuerst«. Dieses wird mit einer Feindschaftserklärung gegen Linke, Liberale und die parlamentarische Demokratie verbunden.
Die neofaschistische Rechte ist in einigen Regionen auch zivilgesellschaftlich verankert, allerdings ist die Dynamik (noch) keine der Massenorganisation; es dominiert die Online-Mobilisierung von Ressentiments und Hass. Mit rassistischen Kampagnen kann die Rechte in einigen Fragen gesellschaftliche Mehrheiten ansprechen. Zugleich wirken die etablierten Parteien ratlos und übernehmen Teile der politischen Rechtsaußen-Agenda. Unterschiedliche Kräfte – von der Union über das BSW bis zur AfD – befeuern eine neue Konjunktur des Rassismus gegen Geflüchtete, in der sich autoritäre Affekte, Abstiegsängste und Wut über soziale Ungerechtigkeit bündeln.
Auch wenn Die Linke in einer tiefen Krise ist und linke Antworten auf die Krisen medial gezielt de-legitimiert werden, greift es zu kurz, von einer antilinken Konjunktur zu sprechen. Die tieferliegende Dynamik ist eine Konstellation blockierter Transformation. Die Ampel-Regierung hat ihr Versprechen, eine »soziale und ökologische Transformation« einzuleiten, gebrochen. Gescheitert ist sie jedoch nicht daran – und auch nicht allein an dem verknöcherten Neoliberalismus der FDP-, sondern an Widersprüchen zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen. Statt einer »grünen Hegemonie«, wie von den Rechten und neoliberalen Konservativen behauptet, kam es in den Jahren seit der Coronakrise zu verstärkten Richtungskämpfen darüber, in welche Richtung das neoliberale Exportmodell gehen soll.
Die entscheidende Kräfteverschiebung in der derzeitigen politischen Konjunktur ist die Neuausrichtung der Union unter Merz. Große Teile des neoliberalen Machtblocks wollen eine neue Offensive zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. In ihren Augen wurde während der Merkel-Ära ein weiterer neoliberaler Umbau verschleppt, teilweise fühl(t)en sie sich von der gesellschaftspolitisch modernisierten Union entfremdet.
Seit 2022 ist über die bürgerlichen Medien (vor allem Springer) eine konzertierte Kampagne gegen die »grüne Transformation« angelaufen, die zu Deindustrialisierung und dem Niedergang Deutschlands führe. Dazu gehört die erfolgreiche Klage der Union gegen den Klima- und Transformationsfonds der Ampel-Regierung vor dem Bundesverfassungsgericht.
Lia Becker ist Sozialwissenschaftler*in und Referent*in für Zeitdiagnose bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der hier veröffentlichte Text ist die Kurzfassung eines Beitrags, der auf der Webseite der Zeitschrift »Luxemburg« erschien, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben wird.
Zum Weiterlesen: zeitschrift-luxemburg.de
Die neue neoliberale Offensive setzt auf »Technologieoffenheit« (neben Atomkraft auch Fracking-Gas und LNG beim Energiemix) und auf rigide Austerität statt Ausnahmen von der Schuldenbremse. Priorität haben Senkung der Sozialausgaben, »Bürokratieabbau« und sinkende Unternehmenssteuern. Als zu hoch betrachtete staatliche Investitionen in die Energiewende, E-Mobilität sowie Gebäudesanierung werden abgelehnt. Im Kern ist das eine Agenda für einen Teil der Auto- und Zuliefererindustrie, der Chemieindustrie, für Finanzkonzerne, die Rüstungsindustrie und die fossil geprägte mittelständische Industrie.
Vor dem Hintergrund der »Zeitenwende« mit steigenden Militärausgaben fordert die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zugleich Steuersenkungen und das Festhalten an der Schuldenbremse – also nichts weniger als einen Frontalangriff auf den Sozialstaat. Das Netzwerk um Friedrich Merz, bestehend unter anderem aus dem Wirtschaftsrat der CDU, neoliberalen Thinktanks und Publizisten, kann als der derzeitige politische Anker dieser Kräfte verstanden werden. Wenn es so etwas wie ein »Merz-Projekt« gibt, besteht es darin, angesichts der multiplen Krise und des Aufstiegs der neofaschistischen Rechten wieder zu einem neuen bürgerlichen autoritär-neoliberalen Kampfprojekt zu kommen. Ob es Erfolg hat, dürfte mitentscheiden über die Zukunft der Demokratie in Deutschland.
Eine wichtige Rolle spielen Andreas Rödder, Berater von Merz und als zeitweiliger Leiter der Wertekommission der Fachkommission der CDU mitverantwortlich für das neue Parteiprogramm, und seine rechts-neoliberale Denkfabrik R21. Unter der Führung von Merkel habe sich, so Rödder, die Union unter dem Einfluss »grüner Hegemonie« an der »Transformationsideologie« und der »De-Legitimation von Ungleichheit« beteiligt. Bürgerliche Politik sei nicht erkennbar gewesen und dem Bürgertum fehle es angesichts der vielen Krisen an Selbstbewusstsein – man ist versucht zu sagen: an Klassenbewusstsein. 2024 sei, so Rödder die »grüne Hegemonie«, die den Liberalismus zerstöre, gekippt. Das Pendel schlage zurück, nach rechts. Die Union müsse jetzt zur Partei einer »bürgerlichen Renaissance« werden, um zu verhindern, dass sich entweder eine rechtskonservative Partei zwischen Union und AfD bilde oder es zu einer »illiberalen« nationalistischen oder ›sozialistischen‹ (also von AfD und BSW geprägten) Hegemonie komme. Rödders Ziel: die rechte Gegenströmung »auf die Mühlen« der Union zu lenken.
Ein erneuerter Konservatismus müsse sich als offensive bürgerliche Bewegung gegen »woke« Gleichheitsideologien, »Transformationsideologie« und »Staatsdirigismus« stellen. Ungleichheit sei nicht zu verdammen, sondern als Grundlage für Wettbewerb, Innovation und stabile gesellschaftliche Ordnung zu fördern. Gemäß der neoliberalen Ideologie soll der Staat konsequent auf seine »Kernaufgaben« reduziert werden, das heißt Wirtschaftsförderung (natürlich ohne »Transformationsideologie«), (Eliten-)Bildung, innere Sicherheit und Verteidigung (= Aufrüstung). Es ist deutlich, wohin die Reise gehen soll: eine neue neoliberale Agenda-Politik gegen die Reste des Sozialstaates.
Anders als beim Project 2025 des Donald Trump nahestehenden Netzwerks rechts-neoliberaler Kräfte in den USA steht bei R21 noch kein ausgearbeitetes Programm des autoritären Staatsumbaus mit konkreten Umbauplänen für die familien-, sozial-, bildungs- und kulturpolitischen Institutionen. Das hat vermutlich aber mehr taktische als inhaltliche Gründe. Die Union besteht eben nicht nur aus rechtsneoliberalen Kräften. Klar ist aber, dass mit einer Verbindung von rechtem Kulturkampf und Austeritätspolitik im Kanzleramt auch die Existenz sozialer Dienstleistungen in den Kommunen, von Inklusions- und engagierter Sozialarbeit, von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsstellen sowie antifaschistischer und demokratiefördernder Kultur- und Bildungsarbeit gefährdet ist.
Die mittelfristige Strategie von Merz/Rödder läuft darauf hinaus, die AfD zu begrenzen oder den neoliberal-rechtspopulistischen Teil der AfD einzubinden. Dafür soll die Auseinandersetzung um Hegemonie mittels der rechten Kulturkampfstrategie offensiver geführt werden – mit einer doppelten Frontstellung gegen Grüne und AfD. Ein gefährliches Vabanque-Spiel. So wird die »Brandmauer« zur AfD schon mal diskursiv abgeräumt, in Vorbereitung neuer Koalitionsoptionen. Kurzfristig kann das vielleicht zur Profilierung der CDU/CSU beitragen, führt jedoch bereits zu einer Zerreißprobe. Relevante Teile des Machtblocks sehen insbesondere die »populistische« Rhetorik kritisch. Das Dilemma für Merz & Co.: Sie haben ohne eine Koalition mit einer »normalisierten« rechtspopulistischen Partei derzeit keine absehbare Bündnisoption für eine »bürgerliche Renaissance« in Reinform. Also müssen SPD und Bündnis 90/Die Grünen so geschwächt werden, dass sie von der Union in einer Regierungskoalition dominiert und durch mediale Kampagnen vor sich hergetrieben werden können. Die Erfolgsaussichten dafür sind wiederum nicht so schlecht.
Autoritär-neoliberaler Populismus kann in dieser Konstellation als eine Strategie verstanden werden, das politische Kräfteverhältnis dauerhaft zu verschieben, die Union zur dominanten politischen Kraft zu machen und zugleich neu auszurichten – und so eine neoliberale Offensive durchzusetzen. Einen Endpunkt kennt diese Strategie nicht. Der autoritäre Neoliberalismus reichert sich mit Rassismus, Queerfeindlichkeit und anderen Elementen des autoritären Populismus an, setzt auf Polarisierung. In letzter Konsequenz treibt das in Richtung einer Feindschaftserklärung (wie im radikalisierten Konservatismus der Republikaner in den USA), die die neofaschistische Rechte stärkt. Die völkisch-nationalistische, neofaschistische Mehrheitslinie in der AfD wiederum will keine untergeordnete Regierungskoalition, sondern ein Zerbrechen der Union und stellt sich dafür als Kraft im Wartestand auf. Kommt es zu einer tiefen Krise des deutschen Exportmodells und zu einer neuen offensiven neoliberal-konservativen Regierung, könnten sich die Widersprüche in der Union stark zuspitzen.
Faschisierung ist eine hochgefährliche, aber derzeit noch untergeordnete Dynamik der schleichenden Hegemoniekrise. Wie groß die Gefahr autoritärer Brüche ist, hängt nicht primär von den Wahlergebnissen einer neofaschistisch geprägten Partei ab, sondern davon, ob sich eine Konvergenz zwischen relevanten Teilen des neoliberalen Machtblocks und einer heterogenen Konstellation rechter politischer Kräfte entwickelt. Die Wahl Trumps in den USA kann als Katalysator für ein transnationales Laboratorium rechtsautoritärer antidemokratischer Staatsprojekte wirken. Noch ist die Spaltung des Machtblocks in Deutschland nicht so tief wie in den USA. Noch gibt es keine Konvergenz zwischen neoliberal-konservativen und neofaschistischen Kräften, die zu autoritären Brüchen führen würde. Noch ist es so: Mehrheiten in Deutschland wollen keinen Faschismus, die meisten wollen keine Zerstörung des Sozialstaates und keine Zukunft mit Krieg und Klimakatastrophen. Aber sie sind politisch fragmentiert und nicht organisiert. Deutschland steht am Kipppunkt.
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