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- WIdO-Pflege-Report 2024
Pflegekrise: Ehrenamtliche sollen ran
AOK-Report: Pflegebedürftigkeit in Deutschland stark unterschiedlich verteilt
Die Eigenanteile in Pflegeheimen steigen, der Beitragssatz in der Pflegeversicherung wird 2025 angehoben. Berufsnachwuchs fehlt, Angehörige leben oft weit entfernt. Die Pflege insgesamt wie auch die professionell dort Tätigen warten auf Reformen, die doch erst in der nächsten Legislaturperiode kommen werden. Neue Zahlen vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (Wido) machen auch keine Hoffnung.
Denn in nur zwei von 400 Landkreisen entspricht die tatsächliche Pflegebedürftigkeit den demografisch zu erwartenden Zahlen, so ein Ergebnis des am Dienstag in Berlin vorgestellten Pflegereports des Kassenverbandes. Es brauchen also noch mehr Menschen Unterstützung als angenommen. Schon zwischen 2017 und 2023 war ihre Zahl von 3,3 Millionen auf 5,2 Millionen angestiegen, wobei 2017 die Bedürftigkeit gesetzlich neu geregelt wurde. Mit dem neuen Pflegegrad 1 kann seitdem auch bei nur geringer Beeinträchtigung der Selbstständigkeit Hilfe genutzt werden, unter anderem im Haushalt.
Bei der Unterstützung im Haushalt lässt die Fantasie schon nach – das könnten sich nur 37 Prozent der Babyboomer vorstellen.
Die Raten der Pflegebedürftigkeit streuen nach AOK-Befund regional erheblich. Am höchsten sind sie in den östlichen Bundesländern (ohne Sachsen), auch in Teilen von Hessen und Nordrhein-Westfalen. Dort sind über 17 Prozent der Versicherten pflegebedürftig, im Bundesschnitt sind es sieben Prozent. Die höchsten Werte wurden in Brandenburger Regionen erreicht, in den Landkreisen Barnim, Prignitz und Ostprignitz-Ruppin. Dort ist aktuell jede sechste Person pflegebedürftig.
Die Steigerungsraten seit 2017 sind deutlich höher als die von Experten erwarteten 21 Prozent. Diese Zahl hatte sich vor allem auf die absehbare Alterung der Bevölkerung bezogen. Der Anstieg betrug im Jahr 2023 in der Spitze bis zu 144 Prozent. Den letztgenannten Wert erreichten die Städte Köln und Leverkusen. Im Bundesdurchschnitt lag er bei 57 Prozent. Neben der Auswirkung der neuen Pflegegrade könnte dieser Anstieg aber auch damit zusammenhängen, dass bestimmte Krankheiten jetzt mehr Menschen an einem selbstständigen Alltag hindern, vermutet Susanne Behrendt, die im Wido den Forschungsbereich Pflege leitet.
Im vorgesehenen, aber nun verschobenen Pflegekompetenzgesetz sei ein unabhängiges Gutachten zu den Einflussfaktoren auf die Pflegebedürftigkeit vorgesehen, erklärt Behrendt. Wenn das Gesetz dann endlich kommt, dürfte es auch in diesem Bereich mehr Klarheit geben.
Sehr unterschiedlich zeigen sich die Zahlen der Menschen, die Leistungen der Pflegekasse in Anspruch nehmen. So wird der alleinige Pflegegeldbezug vor allem im Westen Deutschlands bevorzugt. Das scheint mit dem höheren Anteil von Frauen zu korrelieren, die neben einer Teilzeitbeschäftigung für Angehörige da sind. Im Osten Deutschlands hingegen nutzen 41 Prozent der Pflegebedürftigen die Sachleistungen ambulanter Dienste, demgegenüber tun das etwa in Rheinland-Pfalz nur 16 Prozent.
Die Angaben basieren auf Daten von 2,2 Millionen AOK-Versicherten, die Leistungen nutzen – dies entspricht 43 Prozent aller Pflegebedürftigen in der sozialen Pflegeversicherung. Offenbar sind diese aussagekräftiger als statistische Daten, wie die AOK betont.
Eine Anregung der Ortskrankenkassen zielt in dieser schwierigen Situation darauf, den Sektor auf kommunaler Ebene »passgenau zu steuern«, wie es AOK-Vorständin Carola Reimann formuliert. Dazu könnten Daten geliefert werden. Gesetzt wird auf »Caring Communitys«, also ein gemeinschaftliches Engagement in der Regel in Gemeinden. Gemeint sind Netzwerke, in denen professionelle Pflegekräfte, Angehörige und Ehrenamtliche zusammenarbeiten, um Pflegebedürftige in der gewohnten Umgebung zu unterstützen.
Hier möchte man Babyboomer einbeziehen, die jetzt in Rente gehen. Der Ansatz wird durch eine Forsa-Umfrage gestützt, die aktuell nach der Bereitschaft für ehrenamtliche Pflege fragte. Demnach könnten sich 64 Prozent der Altersgruppe aus den geburtenstarken Jahrgängen vorstellen, Unterstützung zu leisten. Das solle aber nicht so verstanden werden, betont Reimann, dass auf diese Weise Lücken in der professionellen Pflege zu schließen wären.
Dazu passend sind es vor allem Alltagshilfen, bei denen sich die Befragten sehen: Einkaufen, Spaziergänge, Vorlesen, Gesellschaft leisten, Veranstaltungen besuchen, zu Arztterminen begleiten. Bei der Unterstützung im Haushalt, beim Kochen oder Putzen, lässt die Fantasie schon nach – das könnten sich nur 42 Prozent aller Befragten und 37 Prozent der Babyboomer vorstellen. Auch das ist zwar keine Pflege im engeren Sinn, kann aber dazu beitragen, dass Menschen noch länger in ihrer gewohnten Umgebung leben können.
Dem Leitbild von Caring Communities würde das nicht widersprechen. Laut Reimann ginge es darum, Ehrenamt und Professionelle besser zusammenzubringen. Schon jetzt engagieren sich 43 Prozent der Babyboomer-Generation ehrenamtlich, jeder Fünfte von diesen unterstützt bereits andere Menschen. Anhand von Planungen der Stadt Hannover wurde gezeigt, wie in Quartierszentren Angebote für alle Generationen zusammengebracht werden könnten. Neben Beratung, Bildung und Kultur sollten dort auch therapeutische, medizinische und pflegerische Leistungen bereitstehen. In Zeiten klammer kommunaler Kassen wirken derartige Ideen eher wie ein »Wünsch-dir-was«, ganz abgesehen von verfügbaren zentral gelegenen Immobilien für gemeinnützige Aufgaben.
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