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Payal Kapadia: »Ich wollte ein Gefühl von Freude bewahren«

Die indische Regisseurin Payal Kapadia über ihren Film »All We Imagine as Light«, die Binnenmigration in Indien und die Gentrifizierung in Mumbai

Die Krankenschwester Prabha (Kani Kusruti) und ihre jüngere Kollegin Anu (Divya Prabha) teilen sich eine Wohnung in Mumbai.
Die Krankenschwester Prabha (Kani Kusruti) und ihre jüngere Kollegin Anu (Divya Prabha) teilen sich eine Wohnung in Mumbai.

Payal Kapadia wurde für ihr Langfilmdebüt »All We Imagine as Light« auf dem diesjährigen Cannes-Filmfestival mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Sie ist die erste indische Person, die einen solchen Preis gewinnt. Der Film erzählt von der Solidarität zwischen drei Frauen, die nach Mumbai gezogen sind, um dort als Krankenschwestern zu arbeiten.

Frau Kapadia, Sie sind eine der vier Regisseurinnen, die dieses Jahr in den Wettbewerb des Cannes-Filmfestivals eingeladen wurden. Dabei ist »All We Imagine as Light« Ihr Langfilmdebüt. Allein das ist schon ein großer Erfolg. Wie fühlen Sie sich?

Ich fühle mich sehr privilegiert. Das ist kein großes Filmprojekt gewesen. Und wir haben gar nicht mit so einem Erfolg gerechnet. Das ist eine Ehre für mich, und das wird auch für den Film sehr gut sein, weil nun mehr Menschen ihn sehen werden. Ich freue mich sehr.

Die Geschichte hat zwei Teile: die Mumbai-Episode und die ländliche Episode. Warum haben Sie sich für diese zwei Orte entschieden?

Mumbai ist eine Stadt, wo viele Menschen aus unterschiedlichen Teilen Indiens hinziehen, um dort zu arbeiten. Da entsteht eine Binnenmigration, denn in jeder Region von unserem Land wird eine andere Sprache gesprochen. Und das führt zu einer Art Entfremdung. Ich habe so etwas während meiner Zeit in der Filmschule beobachtet; meine Freunde kamen aus allen Regionen des Landes, manche von ihnen mussten Hindi lernen, ohne vorher ein Wort davon gesprochen zu haben. Das ist schwierig, wenn man in eine neue Stadt zieht, dafür noch eine neue Sprache lernen muss. Man muss über das Leben verhandeln. Das war einer der Gründe, warum ich Mumbai in meine Geschichte integrieren wollte; ich wollte einen Film darüber machen, wie man über den Lebens- und Arbeitsraum verhandelt. Mumbai ist außerdem eine Stadt, die ich gut kenne. Ich wurde da geboren, bin nicht immer dort aufgewachsen, aber momentan lebe ich wieder in Mumbai. Das ist ein Ort, wo das Arbeiten für Frauen im Vergleich zum Rest des Landes etwas einfacher ist – es gibt vielleicht nur noch wenige solche Orte in Indien.

Interview

Payal Kapadia wurde 1986 in Mumbai geboren. Sie studierte Filmregie am Film & Television Institute of India in Pune. Ihr Kurzdokumentarfilm »And What Is The Summer Saying« feierte 2018 auf der Berlinale in der Sektion Berlinale Shorts Premiere. Für ihren abendfüllenden Dokumentarfilm »A Night of Knowing Nothing« gewann sie 2021 in Cannes in der Reihe Director’s Fortnight den Preis Golden Eye. 2024 wurde sie in die Jury des Locarno-Filmfestivals berufen. Ihr Spielfilmdebüt »All We Imagine as Light« ist momentan für zwei Golden Globe Awards (beste Regie, bester nicht-englischsprachiger Film) nominiert.

Und dann haben wir Ratnagiri, wo der zweite Teil des Films spielt und wohin die zwei Hauptdarstellerinnen ihre Kollegin und Freundin begleiten.

Ratnagiri ist eine Region im Süden von Mumbai, in der zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Migrationen stattfanden, weil viele in Mumbai in Baumwollspinnereien arbeiten wollten. Für mich sind diese zwei Orte durch die Migration miteinander verbunden. Im Laufe der Jahre verloren viele Menschen ihre Arbeitsplätze in den Fabriken. Da mussten die Frauen arbeiten gehen, um die Arbeitslosigkeit ihrer Männer zu kompensieren. So gelten die Frauen aus Ratnagiri, zumindest in meinen Augen, als sehr tough und stark. Mich interessierte außerdem, dass Frauen in Indien finanziell unabhängig, aber was die anderen Entscheidungen im Alltag und in Sachen Liebe angeht, völlig an ihre Familie gebunden sein können. Dieser Widerspruch schmerzt mich irgendwie. Und das ist etwas, was ich in dem Film zum Ausdruck bringen wollte.

In »All We Imagine as Light« versucht eine zarte Liebe, in einer repressiven Atmosphäre zu überstehen. Es gibt einen Konflikt zwischen dem Privaten und dem System. Erzählen Sie ein bisschen über diese Herangehensweise.

Für mich ist es die Art und Weise, mich mit einem größeren gesellschaftlichen und politischen Diskurs in unserem Land auseinanderzusetzen; durch etwas sehr Persönliches, was nur zwischen zwei Menschen ist, nämlich die Liebe. Der Konflikt, der daraus entsteht, sagt viel über die Gesellschaft im Allgemeinen. Und ich möchte glauben, dass es etwas Universales ist. Das könnte viele Menschen aus verschiedenen Ländern betreffen, obwohl Indien sehr speziell ist, wenn es um das Kastensystem und die religiöse Bigotterie geht.

Die schwierigen Themen werden in diesem Film in einer leichten und eher poetischen Art thematisiert. Wie haben Sie das geschafft?

Vielleicht hat es damit zu tun, was für eine Art Person ich selbst bin. Denn ich empfinde wirklich Freude an Sachen. Ich wollte ein Gefühl von Freude bewahren. Wir tendieren ja dazu, uns zu beschweren, wie schrecklich das Leben ist und dass wir nur leiden. Doch das stimmt nicht. Du leidest, aber du hast auch andere Dinge im Leben, die dich glücklich machen: Du hörst Musik und fühlst dich gut, du isst gebratenen Fisch und fühlst dich gut! Diese menschlichen Glücksmomente sind mir genauso wichtig.

Was hat Sie dazu inspiriert, die Geschichte über diese drei unterschiedlichen Frauen zu schreiben, die in Mumbai leben und arbeiten?

Diese Charaktere sind eine Art Nebeneinander von den Menschen, Freunden, sogar Familienmitgliedern, die ich kenne und die sich auf eine bestimmte Weise verhalten. Die Geschichte der älteren Frau Parvaty ist für mich die Geschichte der Stadt Mumbai: Sie ist nach Mumbai gekommen und hat versucht, dort ein Zuhause zu finden, aber ihr werden ihre Rechte verweigert, weil sie weder das Geld noch die Macht hat, um Anspruch auf ihr eigenes Grundstück zu erheben, auf dem sie seit 22 Jahren lebt. Sie wird stattdessen aus der Stadt rausgeschmissen. Es geht also wirklich um das Verhandeln des Lebensraums in der Stadt, und darum, was man seine Familie nennt oder was in solch einem Raum letztendlich zur Familie wird. Viele meiner Freunde sind ebenfalls nach Mumbai gezogen. Ich begann also irgendwann, die Stadt anders zu sehen und darüber nachzudenken, was wir nun füreinander sind. Ich glaube, einige der Ideen kamen von da her.

Ist dieser Film kapitalismuskritisch?

Ja, das ist antikapitalistisch. Es gibt einen Real-Estate-Boom in Mumbai. Der Markt, den man am Anfang des Films sieht, ist der Dadar Flower Market. Dieselbe Gegend wird nach drei Stunden zu einem multinationalen Firmenviertel. Also, um drei Uhr morgens ist der Blumenmarkt da, danach wird alles komplett gereinigt für bestimmte Firmen. Man sieht eine totale Gentrifizierung von kleinen Geschäften. Das ist auch eine Kritik an der Stadt, die eigentlich inklusiv sein sollte, doch sie ist nur dann inklusiv, wenn du Geld hast, sonst wirst du rausgeschmissen. In Indien gehen wir momentan von einem sehr feudalen System zu einem extremen Kapitalismus über. Es gab einen Moment von Sozialismus in unserem Land, der nicht lange währte. Von jener kurzen Zeit sind nur ein paar Dinge übriggeblieben, etwa unsere staatlichen Schulen. Nun, um zur Gentrifizierung zurückzukommen: Wenn man an der Gegend vorbeigeht, sieht man Firmengebäude, wo man einen bestimmten QR-Code braucht, um diese betreten zu dürfen. Es gibt separate Aufzüge für das Personal, das da arbeitet. Draußen vor diesen Gebäuden steht: »Betreten für Arbeiter verboten.« In derselben Gegend waren früher die Arbeiter in den Baumwollspinnereien tätig. Für mich ist es das kostspielige Ergebnis des Vetternwirtschaftskapitalismus.

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Das unabhängige indische Kino, vor allem das der jungen Regisseur*innen, ist mittlerweile sehr erfolgreich auf den renommierten Festivals wie Cannes, Berlinale und besonders auf dem Sundance. Allein auf dem Sundance-Filmfestival haben mehrere indische Spielfilme und Dokus in den vergangenen Jahren wichtige Hauptpreise gewonnen. Was ist der Grund dieses Erfolges?

Ich glaube, die indischen Filmemacher suchen nun mehr finanzielle Unterstützungen bei den europäischen Institutionen. Einige Staaten in Indien verfügen zwar über bestimmte Fördermittel, aber wir haben keine finanziellen Mittel, um unabhängige Filme zu machen. Daher führt die Zusammenarbeit mit den Europäern dazu, dass mehr unabhängige Filme entstehen. Ich denke außerdem, dass Kameras im Laufe der Jahre zugänglicher geworden sind und dass die Leute ohne große Ressourcen nun filmen können. Die Technologie hilft uns also auch.

Sind solche unabhängigen Werke auch in Indien beliebt? Es sind ja nicht typische Bollywood-Filme.

In Indien sind wir ja viele Menschen. Ein unabhängiger Film bringt etwa 20 000 Zuschauer ins Kino; allein meine Nachbarschaft hat so viele Einwohner! (lacht) Also, selbst wenn es sich um eine kleine Vorstellung handelt, werden sich einige Leute finden, die den Film sehen.

»All We Imagine as Light« ist der erste indische Film seit 30 Jahren, der im Hauptwettbewerb des Cannes-Filmfestivals gezeigt wurde. Ist das in Indien eine große Sache?

Jeder Staat in Indien hat einen großen Filmmarkt. Festivals spielen dabei keine so große Rolle. Denn wir haben unser eigenes Ding am Laufen. Es ist eine sehr große Industrie. Ein paar Menschen werden natürlich von Cannes wissen; und es ist gut, die Leute bekommen mit, dass hier etwas vor sich geht. Doch der Großteil der Bevölkerung hat keine Ahnung, was dieses Festival ist (lacht)!

»All We Imagine as Light«: Indien, Frankreich, Niederlande, Luxemburg 2024. Regie und Buch: Payal Kapadia. Mit: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, Hridhu Haroon. 114 Min. Kinostart: 19. Dezember.

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