Deutsche Bahn: Zurück in der Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts

Die Wettbewerbsideologie führte den Bahnverkehr in Deutschland aufs Abstellgleis

Bei der Neuerrichtung der Friesenbrücke über die Ems in Niedersachsen
Bei der Neuerrichtung der Friesenbrücke über die Ems in Niedersachsen

Basel ist eine Reise wert. Insbesondere, seit in den vergangenen zwei Jahrzehnten die staatlichen Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) große Teile des bis dahin vernachlässigten Regionalverkehrs der liberalisierten Deutschen Bahn (DB) AG übernommen haben. Heute fahren komfortable eidgenössische S-Bahnen im schnellen Takt weit ins deutsche Vorland hinaus, um die Arbeitskräfte der Metropolregion grenzüberschreitend in die Büros und Labore des historischen Wirtschaftszentrums der Schweiz zu bringen. Dieses ist eng mit dem Südwesten der Bundesrepublik, mit Oberrhein und Schwarzwald, verbunden.

Weniger reibungslos lief der Fernverkehr: Vor zwei Jahren platzte dem Vorstand der SBB dann der Kragen: »Züge aus Deutschland treffen regelmäßig mit Verspätung in Basel ein.« Verspätungen und Zugausfälle hätten zudem negative Auswirkungen auf die Pünktlichkeit der Züge innerhalb der Schweiz. Seit 2022 wartet man in Basel nicht mehr länger, bis saumselige Züge aus Deutschland eintreffen. Und für Reisende aus der Schweiz muss die Deutsche Bahn ganztags in Basel einen ICE als Ersatzzug parat halten.

Wie es soweit kommen konnte, erklärt Johann-Günther König auf originelle, geradezu liebenswürdige Weise in seinem zweiten Bahn-Buch. Dabei legt der Mobilitätsexperte die Messlatte eigentlich nicht allzu hoch. Der öffentliche Schienenpersonenverkehr startete hierzulande am 7. Dezember 1835. »Aufgrund des seitdem enormen technischen und elektronischen Fortschritts sollten wir längst über eine durchgängig elektrifizierte und die bundesdeutschen Landschaften sinnvoll erschließende Eisenbahn verfügen, die mit optimal aufeinander abgestimmten Fahrplänen und einer übersichtlichen wie preiswerten Tarifgestaltung aufwartet.« Die Bahn sei selbstverständlich gut ausgestattet und habe mit anderen Verkehrsmitteln erreichbare Bahnhöfe zu bieten – wohlgemerkt allerorten mit hilfsbereitem und freundlichem Personal. In der Realität ist der Traum geplatzt.

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Seit 1835 gab es im zunächst privaten deutschen Schienenverkehr einige größere Zäsuren. Zuerst die Etablierung einer einheitlichen Staatsbahn nach dem Ersten Weltkrieg, dann der Betrieb zweier Staatsbahnen nach der deutschen Teilung 1949, ab Mitte der 1960er Jahre der Bedeutungsverlust der Eisenbahn durch die Massenmotorisierung, 1994 die Verschmelzung von Bundesbahn und Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG, 1996 die Übertragung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) in die Obhut der Bundesländer und die Öffnung des Eisenbahnnetzes für nichtbundeseigene Eisenbahnunternehmen.

Der seit der Bahnreform 1994 sogenannte Eisenbahn-Markt – »was für ein begrifflicher Irrsinn«, wettert König – erwies sich als ein Spielfeld privater und staatlich kontrollierter Unternehmen und Holdinggesellschaften, die den Prinzipien Wachstum, Konkurrenz und Gewinnmaximierung huldigen. Was in der Praxis zu erheblichen Reibungsverlusten und kostspieligen Doppel- und Mehr-fachstrukturen führte, weitgehend finanziert aus öffentlichen Kassen. Die DB ist auf den Schienen der Bundesrepublik keine einheitliche Staatsbahn mehr, sondern einerseits ein Eisenbahnverkehrsunternehmen unter vielen und andererseits ein Infrastrukturbetrieb für das Schienennetz mit Monopolstellung. Komplett entgleist also.

Gewohnheitsmäßig verspätete Züge, unbequeme Waggons und heruntergekommene Bahnhöfe – weit entfernt vom gebührenden Niveau der SBB – bilden lediglich die Spitze des Eisberges. Im Netzzustandsbericht der DB, Stand 2023, wird der »altersbasierte Nachholbedarf« bei der deutschen Bahninfrastruktur auf 103,4 Milliarden Euro beziffert. Etwas mehr als die Hälfte davon allein für die Brückensanierung. »Fragt sich nur«, so König, »woher das notwendige Geld dafür kommen soll.« International ist das angesichts klammer Kassen in vielen Ländern kein Einzelfall. Anlässlich der COP 29 in Baku kritisierte der Internationale Eisenbahnverband UIC, dass weltweit Schienennetze und Bahninvestitionen zurückgingen.

Mit Milliardeninvestitionen wollte die bisherige Bundesregierung das marode Schienennetz in Deutschland wenigstens in Teilen ertüchtigen. Wenn der Bundeshaushalt 2025 nicht verabschiedet wird, fehlen der Schiene im kommenden Jahr bis zu 20 Milliarden Euro, die von der Scholz-Regierung zugesagt worden waren. Bis 2030 ist der Finanzbedarf noch um ein Vielfaches größer. Die von der Politik versprochenen, ohnehin ungenügenden Milliarden sind »alles andere als niet- und nagelfest«, meint König. Der milliardenschwere Verkauf des DB-Logistikkonzerns Schenker an die dänische DSV ändere daran nichts. Mittlerweile fehle es für eine ordentliche Renovierung nicht allein am politischen Willen und Geld, sondern auch an Technik, rollendem Material und Fachkräften von der Lok bis zum Baukonzern.

Die Folgen der Trennung von Trasse und Traktion für Fahrgäste sind fatal. »Wer Bahn sagt, muss in Deutschland leider allzu häufig zusätzlich auch ›Anschluss verpasst!‹ fluchen«, so König. Dabei ist gerade Pünktlichkeit ein systemspezifischer Vorteil des Schienenverkehrs. Eigentlich. Zwar verspricht jede neue Bundes- und Landesregierung baldige Besserung, doch durch die Bahnreform von 1994 unterliegt die DB keiner klassischen Gemeinwohlverpflichtung mehr, noch gar der Gemeinnützigkeit. »Kurz, Eisenbahnverkehrsdienstleistungen sind für den Bund keine Staatsaufgabe mehr, sondern sind als marktgängiges Gut den sogenannten freien Marktkräften überlassen.«

Nach der Fusion von Reichs- und Bundesbahn blieb der Nah- und Fernverkehr – wie in der Schweiz – als einheitliches System zunächst erhalten. Dann wurde auch dieses Band zerrissen. Ein weiterer fataler Fehler. Gegenwärtig existieren 27 sogenannte Aufgabenträgerorganisationen mit einem bunten »Fahrzeugzoo« und vielen voneinander abweichenden Tarifen, die den SPNV mittels 540 Eisenbahnunternehmen organisieren, rechnet König vor. Damit ist die Bundesrepublik zurück in der Kleinstaaterei des frühen 19. Jahrhunderts.

Von einer noch weiter steigenden Anzahl von Wettbewerbern, wie es die Europäische Kommission fordert und fördert, hält König so wenig wie andere Bahnkritiker. Das sei lediglich »Wettbewerbsideologie«. Weder sei ab der Jahrtausendwende die Qualität des Bahnverkehrs in Deutschland gestiegen noch seien die Kosten gesunken. Die künftige Bundesregierung sollte daher mit anderen Regierungen zusammen darauf hinwirken, dass die EU-Kommission die Bahn-Liberalisierung korrigiert, fordert Schienen-Fan König. »Es wird höchste Zeit, gesellschaftlich und in den Medien anzuerkennen, dass eine Exzellenz-Eisenbahn kein Gewinnbringer sein kann und schon gar nicht zum Discountpreis zu haben ist.«

Johann-Günther König: Anschluss verpasst. Die Krise der Deutschen Bahn, zu Klampen Verlag, Springe 2024, kartoniert, 128 Seiten, 16 €.

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