Weihnachtswein: Wenn er weg ist, ist er weg

Poser, Portugiesen und die Zärtlichkeit: Das nd-Feuilleton kürte den Weihnachtswein 2024

  • Niko Daniel
  • Lesedauer: 6 Min.
Und auf einmal hat man einen »Wein gewordenen Ricky Gervais« im Glas.
Und auf einmal hat man einen »Wein gewordenen Ricky Gervais« im Glas.

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Feuilleton des »nd« ausging, dass aller Wein geschätzt würde. Na ja, nicht jeder Wein, genau genommen nur fünf verschiedene Rotweine, die von Redakteurinnen und Redakteuren ausersehen waren, um unter ihnen den Weihnachtswein für 2024 zu küren. Und so trafen sich die Gefährt*innen, ergänzt um eine Freundin der Kunstredakteurin, eine Soziologin aus Norddeutschland auf Durchreise, in einer Zweizimmerwohnung in Nordberlin und tranken und prüften und beratschlagten, gemäß dem goldenen Goethe-Wort »Es lebe die Freiheit! Es lebe der Wein!«.

Nur zu teuer durfte er nicht sein (bis 18 Euro), und idealerweise sollte er auch zur Kombination Kartoffelsalat mit Würstchen, dem deutschen Heiligabend-Gericht schlechthin passen. Weil aber dieses Essen keiner anwesenden Feuilleton-Person so richtig schmackhaft zu machen war, wurde es nur abstrakt imaginiert und stattdessen Schweinefilet mit Backkartoffeln und Feldsalat mit Granatapfel und einer Cashew-Cranberry-Mischung gereicht.

Als Erstes ließ die Runde eine Flasche portugiesischen Syrah von 2022 kreisen, der unter der Marke Fat Baron verkauft wird. Schon nach dem ersten Schluck warf die Reportage-Redakteurin die Frage auf, ob das überhaupt ein Weihnachtswein sei, den man zu einem Festtagsbraten servieren könnte. Weil er doch dafür eine Spur zu leicht sei, auch wenn seine dickbauchige Flaschenform an einen Sherry gemahne. Sie wurde von der Kunstredakteurin darüber aufgeklärt, dass er zu einem vorgestellten Kartoffelsalat an Heiligabend sehr wohl passen würde, denn den Festtagsbraten gebe es doch frühestens zu Mittag am ersten Weihnachtstag.

Die auf der Durchreise befindliche Soziologin widersprach und erklärte den Fat Baron zu einem sehr weihnachtlichen, auch festtagskompatiblen Wein, da er eben gar nicht »zu leicht« schmecke, sondern »sehr schwer«. Sie könne ihn sich auch gut »zum Käse danach« vorstellen, aber keinesfalls zu einem Kartoffelsalat. Für den Literaturredakteur schaute der Wein »dem real vorliegenden Schweinefilet freundlich über die Schulter«.

Als Nächstes gab es einen 2020er Lagrein aus Südtirol vom Weingut H. Lun, den die Filmredakteurin als »besonders rund« lobte. Der Theaterredakteur testete ihn erst ohne und dann mit Schweinefilet. Ohne sei er sehr im Vordergrund, bemerkte er, werde dann aber vom Filet in den Hintergrund gedrängt, ganz so, als müsse er wie ein Verlierer den Rückzug antreten. Dieses »schnelle Verschwinden auf der Zunge« schien auch dem Literaturredakteur verdächtig, als »zu undeutlich und wackelig«. Der Wein sei nicht mehr als ein »hektischer Gruß im Winterschlussverkauf«.

Die Soziologin empfand ihn dagegen als »ruhig« und die Kunstredakteurin als »ganz zart«. Die Reportage-Redakteurin meinte: »Ja, da ist so eine Zärtlichkeit drin. Das ist etwas für Leute, die sensibel sind.« Der Literaturredakteur fühlte sich an »Polizisten« erinnert, ein altes Lied der Gruppe Extrabreit aus der NDW-Zeit, in dem es hieß: »Sie rauchen Milde Sorte, denn das Leben ist schon hart genug« – und genau so sei auch dieser Wein. »Also ist er der Marlboro Silver unter den Rotweinen«, ergänzte die Reportage-Redakteurin.

Tatsächlich hatte der Wein nur 12,5 Prozent Alkohol, auffallend wenig, verglichen mit den 14,5 Prozent des Fat Baron. Da sei eben ein Wein »zum Trinken« und nicht unbedingt ein Essensbegleiter, kommentierte die Filmredakteurin. »Auf den ersten Blick denkt man, er hat nicht so viel Charakter. Aber wenn man ihn dann kennenlernt – oha«, fasste die Kunstredakteurin all diese Eindrücke zusammen.

Als Nächstes wurde ein 2020er Côtes du Rhône Villages (Grenache/Syrah) aus dem okzitanischen Saint Gervais vom Weingut Clavel eingeschenkt. Der Theaterredakteur fand ihn »erst dominant, aber dann zu unkonzentriert, sodass er geschmacklich gar nicht ganz ankommt«. Ob dieser Wein vielleicht nur ein Poser sei, rätselte die Runde. »Ja, aber so, dass man ihm glaubt, wenn auch nur für kurze Zeit«, sagte der Theaterredakteur, »denn er begleitet nicht, sondern geht gleich in die Fläche statt in die Tiefe und lässt dich dann allein«, deshalb sei er »irgendwie scharlatanesk«. »Der geht ab, eine Tannin-Rakete. Kommt rein und macht erst mal auf sich aufmerksam«, stimmte ihm die Reportage-Redakteurin zu.

Doch was passiert dann? »Man bemerkt zu viel Säure«, analysierte die Soziologin, »ich finde ihn zu grob.« Für die Kunstredakteurin war er schlicht »zu vorlaut«, für die Reportage-Redakteurin »ein Wein gewordener Ricky Gervais«, schließlich komme er aus einem Ort, der genauso heiße wie der sehr böse britische Comedian. »Den darf man nicht zum Essen trinken«, sprach der Theaterredakteur eine Warnung aus; »ein Anti-Ess-Wein«, echote es aus dem Literaturredakteur. Und die Filmredakteurin rief aus: »Ich finde, der zweite Wein schmeckt nach dem dritten sogar noch schöner!«

Und damit war die Zeit für den vierten Wein gekommen: ein 2020er Touriga aus dem Alentejo vom Weingut Plansel, der zweite Portugiese des Abends. Das gab ein freudiges Hallo unter den Anwesenden. Die Soziologin erklärte, der Alentejo sei die größte Region Portugals und »sehr wüstenartig«. Der Theaterredakteur empfahl einen Laden für portugiesischen Wein in Berlin, wo er »einen Gehilfen« kenne, der eigentlich Germanist sei, aber seine Doktorarbeit abgebrochen habe und jetzt »total glücklich sei«. Der Literaturredakteur gab zum Besten, dass er Portugal das letzte Mal im letzten Jahrhundert gesehen habe. Und die Reportage-Redakteurin fragte, ob die anderen auch »dieses Gluckern in der Flasche, bevor der erste Tropfen kommt«, wahrnehmen würden. Denn dieses Geräusch schätze sie sehr.

Doch wie wirkte der Touriga nach dem Gluckern? Die Filmredakteurin erinnerte er vom Geruch her an Öl, die Reportage-Redakteurin eher an eine frisch angezündete Zigarre, aber: »Schmeckt besser, als er riecht – auf jeden!«, schränkte sie ein. Die Kunstredakteurin urteilte, bei dem poserhaften Wein vorher sei es genau andersrum gewesen. Die Soziologin meinte »eine gewisse Süße« zu entdecken, die den hohen Alkoholgehalt (15 Prozent) sittsam verberge.

Und dann ging es an den fünften und letzten Wein, den die Kunstredakteurin aus einer Weinhandlung in Berlin-Steglitz mitgebracht hatte. Ausdrücklich habe sie einen »Wein zum weihnachtlichen Kartoffelsalat« verlangt, erklärte sie. Das steigerte nicht unbedingt das Vertrauen der Anwesenden in diesen 2018er Cabernet Mitos aus dem Barrique-Fass. Aber dann gab es mehrere Überraschungen: Erstens war es die einzige Flasche mit Glaskorken. Zweitens war sie aus Rheinhessen und nicht aus Frankreich, vom Weingut Machmer aus Bechtheim. Und drittens war der Inhalt lecker.

Für die Filmredakteurin roch der Wein »sehr fein nach Kräutern«. Dem Theaterredakteur erschien er »als ein Wein, der um sich weiß«. Die Reportage-Redakteurin rief aus: »Steglitz weiß Bescheid. Das ist ein sehr guter Wein!« Die Soziologin fand ihn »aromatisch zuckrig« und schmeckte statt Kräutern »etwas Anis«. Der Literaturredakteur lobte ihn als »abgerundeter als der Draufgängerwein aus der dritten Flasche«, gab aber zu bedenken, dass er im Abgang einfach mir nichts, dir nichts verschwinde: »Wenn er weg ist, ist er weg.« Dem pflichtete die Reportage-Redakteurin bei: »Das ist ein Wein, dem klar ist, wann er auf der Party gehen muss.« Und deshalb konnte er diese Weihnachtsweinwahl auch nicht gewinnen. Es siegte die Nummer zwei, der sommerliche Lagrein aus Südtirol, knapp vor dem Cabernet Mitos und dem Syrah namens Fat Baron. Denn der Sommer ist unser Ziel, vor allem im Winter.

Fat Baron: www.jacques.de; Lagrein: www.lun.it; Côtes du Rhône Villages: www.vins-clavel.fr; Touriga: www.adega.plansel.com; Cabernet Mitos: www.weingut-machmer.de

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