Barbarisierung nach außen und innen

Der Psychologe Klaus Weber über den Anschlag in Magdeburg und die Normalisierung von Gewaltverhältnissen

Keine Festtagsstimmung nirgends – am Freitag wurde der Weihnachtsmarkt in Magdeburg abgebaut.
Keine Festtagsstimmung nirgends – am Freitag wurde der Weihnachtsmarkt in Magdeburg abgebaut.

In den letzten Jahren gab es in Deutschland eine Reihe von Attentaten durch – wie es im Polizeisprech heißt – »radikalisierte Einzeltäter«. In Berlin 2017 und Solingen 2024 ermordeten islamistische Einwanderer wahllos Menschen auf Plätzen, in Halle 2019 und Hanau 2020 erschossen Rechtsextreme Migranten. Jetzt hat ein Einwanderer, der das Abendland vor dem Islam retten wollte, in Magdeburg den Weihnachtsmarkt angegriffen. Was sind das für Anschläge?

Ich lebe in Oberbayern und lese morgens neben der »FAZ« auch den »Münchner Merkur«. In beiden Zeitungen wurde der Anschlag sofort politisch instrumentalisiert. Die einen wollen die Sicherheitsgesetze weiter verschärfen, die anderen den »ungebremsten Zustrom von Menschen« stoppen. Dabei wäre eigentlich interessant, sich anzuschauen, was dieser Mann in Magdeburg gemacht hat: Er ist mit einem Auto in einen Weihnachtsmarkt gefahren und hat gezielt Menschen getötet. Drei deutsche Mythen hat er dadurch attackiert: Erstens, dass Weihnachten ein Friedensfest ist, zweitens, dass es sich beim Auto um ein harmloses Transportmittel handelt, und drittens hat er die in der Gesellschaft verborgene Gewalt zum Vorschein kommen lassen. Ich finde, das sind alles Dinge, über die man jetzt sinnvoll sprechen könnte: Weihnachten ist einer der Tage im Jahr, an denen am meisten Frauen und Kinder geschlagen werden. Durch das Auto werden Tausende jährlich getötet. Und wir leben in einer Gesellschaft, die nur aufgrund einer Gewalt existieren kann, die man systematisch unsichtbar zu machen versucht.

Interview

Klaus Weber, Jahrgang 1960, ist Psycho­loge und lehrt als Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozial­psycho­logie, Soziale Arbeit und Faschismus.

Ein weiterer Punkt, über den nicht gesprochen wird: Die Attentäter sind eigentlich immer Männer.

Ja, für mich stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob man solche Attentäter als »psychisch krank« bezeichnen sollte. Wenn man von Wahnsinn spricht, macht man sie zu Anormalen. Der Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit aber hat in seiner Untersuchung »Männerphantasien« schon Ende der 70er Jahre geschrieben, dass es sich bei extremer Gewalt um »die Spitze eines Eisbergs« handelt. Sechs Siebtel eines Eisbergs liegen bekanntlich verborgen unter der Wasseroberfläche. Es ist wahrlich kein Einzelfall, dass Männer, wenn sie sich in ihrer Männlichkeit verletzt oder infrage gestellt fühlen, auf andere losgehen, um ihren Schmerz oder ihre Frustration loszuwerden. Bei diesen Attentaten sind die Opfer völlig Unbeteiligte. Wenn man Bücher über Leute wie den Norweger Anders Breivik liest, …

… ein Rechtsextremer, der 2011 in einem linken Jugendcamp 69 Personen ermordete …

… dann bekommt man den Eindruck, dass das oft eher schwache, vielleicht sogar sensible Männer sind, die mit dem, was ihnen zugemutet wird, nicht klarkommen. In diesem Sinne hat das alles viel mit Normalität zu tun. In unserer Gesellschaft ist es völlig alltäglich, dass Menschen in ihrer Lohnarbeit nichts wert sind oder Sachen machen müssen, die für sie keine Kohärenz herstellen. Der tägliche Wahnsinn, der einen zum Rädchen im Getriebe macht, ist sicherlich eine Quelle der Frustration, die dann nach außen gewendet wird.

Manche Soziolog*innen sprechen davon, dass sich in der Gesellschaft wegen Arbeitstaktung und Krisen ein allgemeiner Erschöpfungszustand breitgemacht hat. Lässt sich das steigende Aggressionspotenzial damit erklären?

Gesellschaftliche Krisen spielen sicherlich eine Rolle, aber sie müssen ja auch durch sozialpsychologische Konstrukte vermittelt werden. Der Hannoveraner Hochschullehrer Peter Brückner hat vor einigen Jahrzehnten einmal darauf hingewiesen, dass in unserer Gesellschaftsformation Produktion und Konsum zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten erforderlich machen. Bei der Arbeit musst du dich disziplinieren, um maximale Leistung zu erbringen. Beim Konsumieren sollst du dich, vor allem in der Vorweihnachtszeit, triebhaft-anarchisch gehen lassen. Ich bin mir in diesem Sinne gar nicht sicher, ob die Aggressionspotenziale heute größer sind als früher oder ob nur einfach bestimmte Unterdrückungsmechanismen nicht mehr so gut funktionieren.

Was meinen Sie damit?

Die alten Sicherheiten – Familie, Heimat, Kirche, Tradition –, die von der Rechten so stark betont werden, sind in der Realität ja massiv angegriffen. Es ist ständig von Familie die Rede, aber 60 Prozent der Bevölkerung von München leben, wie ich, in Single-Haushalten. Und die sogenannten Traditionen sind, wie bei uns das Oktoberfest, nur noch warenförmige Konsumspektakel. Die Dinge, die den Laden zusammengehalten haben, funktionieren nicht mehr.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Sie zielen in Ihrer Erklärung auf die Arbeits- und Konsumverhältnisse ab. Aber der Attentäter von Magdeburg, ein aus Saudi-Arabien stammender Facharzt für Psychiatrie, steckte viele Jahre in den Mühlen der Ausländer- und Asylbürokratie. Danach hat er sich vor allem daran abgearbeitet, dass die deutschen Behörden angeblich nicht islamkritisch genug sind, und in sozialen Medien für die AfD geworben. Steckt hinter den Gewaltexzessen nicht auch so etwas wie ein reaktionärer Todeskult – nach dem Motto »Wenn schon Krise, dann wenigstens für alle«?

Beim Begriff des Todestriebs, wenn Sie auf den anspielen, bin ich eher skeptisch. Der taucht bei Freud nach dem Ersten Weltkrieg auf, als er in Anbetracht der Ereignisse seine Libido-Theorie noch einmal infrage gestellt sah. Ich würde den Zusammenhang eher so beschreiben: Ich töte andere Menschen, weil sie keinen Wert haben. Und das ist sicher eine verbreitete Erfahrung: Viele erfahren sich selbst als nutzlos. Dazu kommt die Normalisierung von Kriegsgewalt. Wenn mit der Militärpropaganda eine Barbarisierung nach außen forciert wird, erzeugt das natürlich auch eine Barbarisierung nach innen. Bundeskanzler Scholz hat nach Magdeburg den bemerkenswerten Satz gesagt: »Was für eine furchtbare Tat ist das, Menschen an solch einem Ort so brutal zu verletzen.« Denn das heißt natürlich umgekehrt: An anderen Orten können wir Menschen verletzten und sterben lassen. Es ist uns egal, ob sie im Mittelmeer ersaufen oder bei den Kriegen in der Ukraine oder im Jemen verrecken. Wenn es heute so etwas wie eine Todeslust gibt, dann hat das, so würde ich behaupten, vor allem damit zu tun, dass der Mensch als wertvolles Wesen nicht mehr anerkannt ist.

Manche Autoren beschreiben die autoritären Bewegungen als eine Form von Nihilismus. Trifft der Begriff auf die reaktionären Bewegungen der Gegenwart Ihrer Meinung nach zu?

Auch das überzeugt mich nicht wirklich. Die reaktionären Bewegungen haben ja durchaus »Werte«. Sie besitzen sehr konkrete Vorstellungen davon, wie die Gesellschaft aussehen sollte. Um noch einmal auf die Männlichkeit zurückzukommen: Die Rechte weiß genau, wo Frauen zu sein und wo sie nicht zu sein haben. Der Nihilismus verneint jede Gesellschaftsordnung. Und das lässt sich von reaktionären Bewegungen wahrlich nicht behaupten.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.