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Eigenbedarf: Raus nach 70 Jahren

Paula Hilsemer soll aus ihrer Wohnung in Köln ausziehen – wegen Eigenbedarfs. Doch daran gibt es Zweifel

Initiativen protestieren immer wieder gegen Wohnraummangel und Entmietungen in Köln. Auch um Paula Hilsemer kümmern sich Mietaktivist*innen und versuchen, die Kündigung abzuwenden.
Initiativen protestieren immer wieder gegen Wohnraummangel und Entmietungen in Köln. Auch um Paula Hilsemer kümmern sich Mietaktivist*innen und versuchen, die Kündigung abzuwenden.

Eine böse Weihnachtsüberraschung erlebte Paula Hilsemer in diesem Jahr. Am 24. Dezember hatte sie die Kündigung ihres Mietvertrags in ihren Briefkasten, die per Expressbrief eintraf. Die Eigentümerin, eine Privatperson, meldete Eigenbedarf an. Deshalb soll Hilsemer in neun Monaten ihre Wohnung in Köln-Mühlheim räumen, in der die 94-Jährige seit 70 Jahren lebt.

»Der Brief meiner Vermieterin hat mich getroffen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Hier ist doch mein Zuhause«, erklärte die Seniorin dem »nd«, die trotz ihres hohen Alters geistig fit ist, aber Pflegegrad 3 hat, weil sie körperlich eingeschränkt ist. Sie will auf jeden Fall in ihrer Wohnung bleiben.

»Wir überlegen, wie wir weiter vorgehen«, kündigte Karl Donner gegenüber »nd« an. Er ist der gesetzliche Betreuer der Seniorin und stellt infrage, dass wirklich Eigenbedarf der Grund für die Kündigung ist. Denn Paula Hilsemer besitzt einen jahrzehntealten Mietvertrag, und deshalb sei die Miete günstig.

Paula Hilsemer mit der Kündigung, die sie Heiligabend erhalten hat
Paula Hilsemer mit der Kündigung, die sie Heiligabend erhalten hat

»Sie hat die Wohnung mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann 1955 bezogen«, erklärt Donner. Damals habe die Miete noch 60 DM gekostet. Heute beträgt die Warmmiete für die 52 Quadratmeter 483,90 Euro. »Mittlerweile hat die Eigentümerin die beiden oberen Wohnungen im Haus sanieren lassen. Sie wurden an Student*innen vermietet. Die zahlen schon über 1000 Euro Miete«, erklärt Donner. Da stellt sich schon die Frage, ob die Seniorin ihre Wohnung verlassen soll, weil sie noch eine günstige Miete hat.

Die Vermieterin hat den Eigenbedarf damit begründet, dass sie nach Köln ziehen wolle, um sich besser um ihre Immobilie, die sie von ihrer Mutter geerbt hat, kümmern zu können. Die Wahl fiel auf die Wohnung von Paula Hilsemer, weil diese im Erdgeschoss liegt und für sie am besten geeignet sei.

Unterstützung bekommt Hilsemer von Kalle Gerigk. Der 64-Jährige engagiert sich bei der Initiative »Recht auf Stadt Köln«, kandidiert für Die Linke im Bundestagswahlkampf und hat selbst eine Zwangsräumung hinter sich. Er engagiert sich seit Jahren für die Interessen von Mieter*innen, auch über Köln hinaus. »Die Eigenbedarfskündigung geht auf Kosten der Menschlichkeit. Es ist schwer nachvollziehbar, wie man das mit dem Gewissen vereinbaren kann«, kommentiert er den drohenden Rausschmiss der Seniorin. »Rechtlich ist es natürlich erlaubt, Eigenbedarf anzumelden, aber moralisch ist es bei einer Mieterin im stolzen Alter von 94 Jahren eine ganz andere Frage«, meint Gerigk.

Tatsächlich haben Eigenbedarfskündigungen in den letzten Jahren massiv zugenommen. Mieter*innenorganisationen sprechen davon, das diese von Vermieter*innen strategisch angewendet werden. Dabei handelt es sich oft um Investor*innen, die mit den Wohnungen Profit machen und auf diese Weise Mieter*innen loswerden wollen, die noch günstige Altmietverträge haben. Von solchen Eigenbedarfskündigungen sind immer häufiger auch betagte Menschen betroffen, die seit Jahrzehnten in ihren Wohnungen leben.

Dazu gehört auch Klaus J., der nicht mit seinem vollständigen Namen in der Zeitung stehen will. Der 85-Jährige muss nach über 50 Jahren seine Wohnung in Köln räumen, nachdem sein Vermieter auf Eigenbedarf geklagt hat. Wie der »Kölner Stadtanzeiger« kürzlich berichtete, hat Klaus J. bei einem Gütetermin vor dem Landgericht Köln einem Vergleich zugestimmt. Er muss bis Ende Februar 2025 aus der Wohnung raus, kriegt 10 000 Euro für den Umzug, und der Vermieter übernimmt die Gerichtskosten. Für ihn könnte es trotzdem ein lohnendes Geschäft sein. Denn laut »Kölner Stadtanzeiger« hat die gekündigte Wohnung Außentoilette und keine Zentralheizung. Nach einer Sanierung wird sie sicher viel teurer werden.

Klaus J. bedauerte später, dass er dem Umzug zugestimmt hat. »Im Gericht habe ich nicht richtig verstanden, was für Möglichkeiten ich hatte. Eigentlich möchte ich in der Wohnung bleiben, aber ich hatte Angst, dass ich, wenn ich verliere, keine Entschädigung kriege«, sagte er dem »Kölner Stadtanzeiger«.

Vor dem Gerichtstermin hatte die Bürgerinitiative »Recht auf Stadt Köln« den Rentner mit einer Kundgebung vor dem Landgericht unterstützt. Die Initiative will dagegen angehen, dass Mieter*innen durch Eigenbedarfskündigung in Angst versetzt werden, was gerade bei älteren Menschen auch lebensgefährlich werden könne.

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